Wenn er wollte, könnte der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Bombardement von Kunduz schnell fertig werden. Es sollte möglich sein, ohne viel Geplänkel die Frage zu beantworten: Was wusste Verteidigungsminister zu Guttenberg über die Geschehnisse in der Nacht zum 4. September im Norden Afghanistans, als er am 6. November vor dem Bundestag formulierte, der Luftschlag sei „militärisch angemessen“ gewesen?
Seit dem 6. September gab es einen ersten Untersuchungsbericht der NATO, der sich auf Recherchen eines Initial Action Teams der ISAF-Schutztruppe am Tatort stützte. Die Provinzregierung von Kunduz legte am gleichen Tag ihrerseits eine erste Bilanz der Ereignisse vor und sprach von 54 Toten, darunter Zivilisten. Feldjäger des Bundeswehr schickten ihren Report am 9. September an den Führungstab der Bundeswehr für Auslandseinsätze in Potsdam. Schließlich gab die UN-Mission (UNAMA) für Afghanistan am 12. September ihre Stellungnahme ab und sprach von insgesamt 142 Todesopfern – unter ihnen „eine hohe Zahl von Zivilisten“.
Verteidigungsministerium wie auch Kanzleramt konnten also spästestens Mitte September sehr viel – eigentlich fast alles – wissen, wenn sie denn wollten. Dass die Existenz der vorhandenen Berichte nicht die Lektüre durch den dafür in Deutschland zuständigen Bundesminister und seines Stabes nach sich zog, ist schwer vorstellbar. Immerhin hatte die Bundeswehr mit ihrer Operation vom 4. September 2009 die größte Zahl an zivilen Opfern in Afghanistan verursacht, seit der erste deutsche Soldat im Januar 2002 dieses Landes betrat. Es sei einmal dahin gestellt, ob und inwieweit erst Minister Jung, später dann sein Nachfolger zu Guttenberg Opfer von Informationsblockaden in ihrem Ministerium wurden. Es sei auch davon abstrahiert, dass ein ungeschriebenes Gesetz für alle Bundesregierungen, die seit 2001 den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr verantworten, offenbar vorschreibt: Die reale Lage am Hindukusch vernebeln, erspart innenpolitischen Ärger. – Was den Ausschuss vorzugsweise oder allein beschäftigen sollte, das ist die Frage: Hat Minister zu Guttenberg am 6. November „politisch adäquat“ gehandelt, als er das Bombardement vom 4. September „militärisch angemessen“ nannte? Hat er mit seinem damaligen Urteil über den Luftangriff eingestanden, die Bundeswehr steht längst mitten in einem bewaffneten, kriegsähnlichen Konflikt und folgt einer offensive Strategie, die zivile Opfer nicht vorsätzlich herbeiführen mag, aber auf jeden Fall bewusst einkalkuliert? Wenn ja, wie kam es zu dieser expansiven Ausweitung des Mandats, ohne das Parlament zu fragen?
Mag es zu Guttenberg am 6. November vordergründig darum gegangen sein, die Bundeswehr aus der Schusslinie zu holen, den befehlhabenden Offizier des Luftangriffs zu entlasten und die Generalität zu beschwichtigen – das Verdikt "militärisch angemessen" bestätigte den Kombattanten-Status der dort eingesetzten Soldaten und den Verlust von moralisch-ethischen oder humanitären Entscheidungskriterien. Genau genommen hat der Minister im Namen einer Kriegspartei geurteilt – auf Augenhöhe mit dem Gegner.
Zu Guttenbergs Widerruf vor dem Bundestag am 3. Dezember – als plötzlich nicht mehr „angemessen“ sein durfte , was bis dahin als „angemessen“ galt – war nicht anderes als der Kniefall vor der Macht des opportunistischen Kalküls und ein Eingeständnis, dass die Vertuschung misslungen war. Was der Minister am 3. Dezember plötzlich wissen wollte, muss er am 6. November längst gewusst haben. Zu untersuchen ist daher ab heute weniger, wer was wann und warum über den 4. September in Kunduz wusste, sondern: Warum wird bis heute die Wahrheit über den Afghanistan-Krieg verschleiert, verzerrt oder verschwiegen?
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