Der Revisionismus-Beißreflex der Linken

Replik. Axel Honneth hat in seinem neuen Buch eine revidierte Theorie des Sozialismus vorgelegt. Einige Linke scheint das zu verunsichern und sie verreißen es grundlos.

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Zusammenfassend kann man sagen, dass Honneth in seinem neuen Buch Die Idee des Sozialismus die soziale Freiheit als Fluchtpunkt des Sozialismus herausarbeitet. Jedoch attestiert er dem Sozialismus drei theoretische Geburtsfehler: Ökonomiezentrismus, Klassenfixierung, Geschichtsdeterminismus. Diese versucht Honneth durch einen höheren Grad an Abstraktion von der beengenden Bindung an die Gegebenheiten der Industrialisierung zu lösen und so für unsere heutige Situation fruchtbar zu machen. So ersetzt er den Ökonomiezentrismus durch ein, der gesellschaftlichen Differenzierung gerecht werdende, Einteilung in die gesellschaftlichen Sphären des Ökonomischen, des Politischen und des Intimen. Anstatt die Geschichte als eine Abfolge von Klassenkämpfen zu interpretieren, sieht er soziale Bewegungen damals wie heute eher als Willensausdruck von unterschiedlichen Gruppen, Kommunikationsbarrieren zu überwinden. Der historische Determinismus wird von einem historischen Experimentalismus abgelöst. Dass von der bisherigen Gestalt des Sozialismus nicht mehr viel übrig bleibt, scheint einige Linke zu verunsichern.

Haltlose Vorwürfe

Liest man den Verriss von Guido Speckmann im Neues Deutschland,[1] fragt man sich schon ob dieser sich einer sorgfältigen Lektüre bemühte. Die Vielzahl an unhaltbaren Vorwürfen lässt auf einen Automatismus bei einigen Linken schließen, den man getrost auch Revisionismus-Beißreflex nennen kann. Unverzichtbarer und zentraler Bestandteil des Revisionismus-Beißreflexes ist natürlich die SPD-Keule. So kann auch Guido Speckmann nicht davon ablassen, Honneths revidierte Theorie des Sozialismus als ähnlich nebulös zu verunglimpfen, wie es der Begriff des Demokratischen Sozialismus in der SPD sei. Wäre die sozialistische Idee der SPD auch nur annähernd so konkret wie die Honneths, wo bleibt dann beispielsweise die sozialdemokratischen Überlegungen zur Infragestellung des Erbrechts?

Davon abgesehen sind die Vorwürfe Speckmanns Honneth gegenüber alle samt haltlos. Zu nächst steht da der fehlende Bezug auf soziale Bewegungen im Raum. Jedoch schreibt Honneth: „[D]er Sozialismus [muß] als die spezifisch moderne Artikulation der Tatsache betrachtet werden, daß im historischen Prozeß stets neue, je nach gesellschaftlichen Umständen variierende Gruppen Anstrengungen unternehmen, den eigenen, bislang unberücksichtigten Ansprüchen öffentlich Gehör zu verschaffen, daß sie Kommunikationsbarrieren niederreißen und dementsprechend die Spielräume sozialer Freiheit zu erweitern versuchen. Ein solcher ‚Kampf‘ durchzieht gewiß die ganze menschliche Geschichte und hält bis zum heutigen Tag an […].“[2] So rebellierte die Bourgeoisie in der Französischen Revolution gegen den Absolutismus, ebenso wie später das deutsche oder russische Proletariat am Ende des Ersten Weltkrieges revoltierte um an der Staatsmacht teilzuhaben. Die Frauen- und Homosexuellenbewegung kämpfen noch heute für eine gleiche gesellschaftliche Teilhabe und vielleicht werden wir in naher Zukunft Zeitzeugen einer aufkeimenden immigrantischen Bewegung. Warum Honneth also als historisches Subjekt nicht nur eine Klasse oder Gruppe anerkennt, liegt wohl daran, dass auch historische gesehen, die Grenze zwischen Unterdrückten und Unterdrückenden vielschichtig durch alle Klassen ging und bis heute geht. Auch empirisch war das (deutsche) Proletariat nicht zwangsläufig die emanzipatorische Kraft.[3] Antisemitismus, Sexismus oder Homophobie waren und sind ebenso verbreitete Einstellungen im Proletariat. Auch wenn zweifellos die Arbeiter*innenbewegung einige emanzipatorische Erfolge vorzuweisen hat, kann ebenso wenig geleugnet werden, dass es auch im Bürgertum partiell emanzipatorische Kräfte gab und gibt. Wichtig scheint es Honneth zu sein, nicht soziale Bewegungen zu fetischisieren, sondern den Fokus der Bewertung sozialer Bewegungen auf deren institutionelle Errungenschaften zu richten.

Des Weiteren fehle sowohl die Berücksichtigung des Kolonialismus der Ökonomie als auch eine Fortführung der Kritik an der politischen Ökonomie. Auch diese beiden Einwände sind unberechtigt und hätten sich bei sorgfältiger Lektüre erübrigt. „In zunehmendem Maße werden vielmehr inzwischen auch immer mehr öffentliche Sektoren dem Prinzip der ökonomischen Rentabilität unterworfen, so daß die Marxsche Prognose einer ‚reellen Subsumption‘ aller Lebensbereiche unter das Kapital allmählich in Erfüllung zu gehen scheint. Aber weder war das in der Geschichte der kapitalistischen Marktgesellschaft immer so, noch muß es mit historischer Zwangsläufigkeit so bleiben.“[4] Man kann hier berechtigterweise einwenden, dass die neoliberale Praxis die intime und zwischenmenschliche Sphäre ebenso ökonomisiert und Honneth diese Tatsache unterschlägt. Gänzliche Ignoranz gegenüber eines Kolonialismus der Ökonomie kann man Honneth allerdings nicht vorwerfen. Eher ist seine Differenzierung der Gesellschaft in eine ökonomische, eine öffentlich-politische und eine zwischenmenschliche Sphäre der Versuch einem solchen Kolonialismus die Legitimitätsgrundlage zu entziehen, indem er jeder Sphäre eigene Prinzipien zugesteht.

Die von Speckmann vermisste Kritik der politischen Ökonomie lässt sich auf den Seiten 107 bis 110 nachlesen. Dort umreißt Honneth ein Programm für eine sozialistische Ökonomie, das sich im Kern auf die Kritik und Dekonstruktion der herrschenden Wirtschaftstheorien sowie den historischen Experimentalismus zusammenfassen ließe. „All diesen Dekonstruktionen der herrschenden Wirtschaftstheorie ist gemein, daß sie den tief verankerten Eindruck zu zerstören versuchen, Märkte seien in ihrem Funktionieren von sich aus auf ein vererbbares Privateigentum an Produktionsmitteln angewiesen und könnten daher nur in kapitalistischer Form erfolgsversprechend existieren […].“[5] Honneth geht hierbei vor allem darum, Markt und Kapitalismus voneinander abzutrennen, nachdem Marx diese beiden Entitäten beinah untrennbar zusammenschweißte. Das ist deshalb nötig, um dem historischen Experimentalismus auch in der ökonomischen Sphäre den Freiraum nicht theoretisch von vornherein einzuschränken.

Schließlich bemängelt Speckmann, dass Honneth sich in seiner theoretischen Auseinandersetzung auf die Frühsozialisten und den frühen Marx fokussiert und sowohl den späten Marx als auch westliche Marxisten wie Gramsci oder Poulantzas ignoriert. Richtig ist, dass Honneth sich weder direkt auf Gramsci noch auf Poulantzas bezieht. Falsch ist, dass er die westlichen Marxisten außen vor lässt. In der folgenden Passage stellt Honneth das klar heraus: „An diesem Punkt setzt nun die Unstimmigkeiten und konzeptuellen Engpässe des Sozialismus ein, mit denen ich mich in diesem Kapitel beschäftigen möchte; dabei kann ich mich in weiten Teilen auf die Tradition des westlichen Marxismus beziehen, in der die Geburtsfehler des sozialistischen Projekts schon seit den 1920er Jahren aus einer Perspektive der kritischen Parteinahme schonungslos offengelegt worden sind.“[6] Zwar hat Honneth eher Merleau-Ponty, Lukács oder Marcuse im Hinterkopf, als Gegenargument gegen die Arbeit Honneths taugt dieser Vorwurf dennoch nicht. Und wenn Gramsci schon vor Honneth den Ökonomismus des Marxismus kritisierte, dann spricht das wohl eher für Honneth als gegen ihn. Hängt Speckmann sich aber an dem Wörtchen „postmarxistisch“ auf, beweist dies nur, dass semantische Reize ausreichen um den linken Beißreflex auszulösen.

Postmarxismus hin oder her; der Aktualisierungsversuch der sozialistischen Idee birgt eine enorme Schwachstelle, auf die auch Speckmann hinweist. Ein großer blinder Fleck in der Abhandlung Honneths ist die Ökologie. Auf die Begrenztheit natürlicher Ressourcen und die ökologischen Krisen als Ansatzpunkt für soziale Bewegungen und Grundlage der sozialen Freiheit geht er nicht ein. Das ist ein bedauerliches Versäumnis, weil eine Lösung der ökologischen Frage ebenfalls die Richtung zu einem vergesellschafteten Wirtschaftssystem und damit zum Sozialismus weist.

Das Verdienst Honneths

Nichtsdestotrotz kann Honneths Revision als durchaus gelungen betrachtet werden, weil er die Idee des Sozialismus derartig erweitert, dass sie grundsätzlich nicht im Widerspruch zur Arbeiter*innenbewegung und ihrer Geschichte steht, sondern auf einer abstrakteren Ebene sowohl den Marxismus als auch antirassistische, (queer-)feministische und andere emanzipatorischen Ansätzen erfasst. Ohne dabei irgendeine Hierarchie der emanzipatorischen Kämpfe zu konstruieren. Dennoch verleugnet Honneth nicht, dass diese Kämpfe in den separaten Sphären abhängig voneinander gefochten werden, sondern die drei Sphären sich einander bedingen und ergänzen. Ökonomische Unabhängigkeit beispielsweise reicht nicht zur Realisierung sozialen Freiheit, wenn die patriarchalische Unterdrückung von Frauen fortbesteht. Und natürlich andersherum.

Der Vorteil von Honneths sozialistischer Idee ist ihre Abstraktheit, die es auch zukünftig ermöglicht, die Idee des Sozialismus mühelos auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen zu übertragen. Anstatt also zwanghaft nach einem Weltproletariat Ausschau zu halten, welchem man ein objektives Interesse oktroyieren kann,[7] sollte man den Willen nach sozialer Freiheit unter der Idee des Sozialismus zu bündeln versuchen. Ob eine revolutionäre Umwälzung das präferierte Mittel sein sollte, bezweifelt Honneth. Viel mehr plädiert er für einen historischen Experimentalismus, der sich bereits auf den in der Geschichte gesammelten Erfahrungen stützen kann. Dieses Plädoyer ist nur folgerichtig, erkennt es doch an, dass ohne eine historische Determination auch keinen stringent durchgezeichneten Weg in den Sozialismus gibt. Die revolutionäre Umwälzung als Abkürzung dieses Weges ist somit nicht mehr haltbar. Hingegen ermutigt Honneth all jene, die für institutionalisierte Errungenschaften sozialer Freiheit streiten oder bereits mit einer sozialistischen Praxis experimentieren. Mindestlohngesetze sind nicht weniger wichtig wie die Kooperation in einem genossenschaftlich-selbstverwalteten Betrieb.

Wenn also eine solche revidierte Theorie des Sozialismus in der Linken derartige Beißreflexe provoziert, dann ist das nur bezeichnend für deren Umgang auch mit dem negativ konnotierten Begriff des Revisionismus allgemein. Dabei ist die ständige kritische Überprüfung des eigenen theoretischen Instrumentariums eine Notwendigkeit für den Sozialismus, will er weiterhin eine ernstzunehmende politische Kraft bleiben. Doch die Revisionsaversion vieler sozialistischer Linke hat dazu geführt, dass mit dem Niedergang des Ostblocks und der Auflösung des Industrieproletariats auch die sozialistische Idee in ihrem verengten Gehäuse in der Rumpelkammer der Geschichte landete. Axel Honneth ist die Bergung und die behutsame Entstaubung der sozialistischen Idee zu verdanken. Somit besteht endlich wieder die Hoffnung auf eine neue affirmative Strahlkraft, die von diesem revidierten Sozialismus ausgehen kann.


[1] Vgl. Neues Deutschland, 28.10.2015.

[2] Honneth: Die Idee des Sozialismus, S. 104.

[3] Vgl. Fromm: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches.

[4] Honneth: Die Idee des Sozialismus, S. 93

[5] ebd., S. 109.

[6] ebd., S. 54.

[7] Vgl. analyse & kritik, Nr. 609: „Klassenkampf statt Regierungspolitik. In den Streikwellen der letzten Jahre hat eine Weltarbeiterklasse Gestalt angenommen. Was heißt das für die Krise in Europa und die Kämpfe in der BRD?“

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