Strompreise: Die Kemferin für Marktradikalität

Claudia Kemfert ist Lobbyistin für Erneuerbare Energien, daran ist nichts auszusetzen. Ihr Bekenntnis zu einem radikal liberalen Strommarkt kann jedoch hinterfragt werden und auch, wer Frau Kemfert für Ihre Auftritte bezahlt.

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Claudia Kemfert ist vielbeschäftigt, besonders in diesen Tagen. Der von Karl Lauterbach wegen akuten Amtsführungsproblemen geräumte Talkshowplatz ist nun durchgängig mit einer Energieexpertin besetzt, die ein enormes, wenn auch nicht immer zielsicheres Sendungsbewusstsein hat: Allein 51 von der Presse frei verwendbare Portraitfotos zeigen eine extrem gut bescheidwissende Frau, die sich aus lauteren Motiven ganz der grünen Energieerzeugung verschrieben hat. Nun widmet ihr auch das Blatt, dessen Diskussionsecke ich für diesen ketzerischen Artikel verwende, eine (paywallgesperrte) Titelstory mit einem aktuellen Statement von Frau Kemfert zur Energiekrise.

"Der Strommarkt funktioniert, wie er soll"

Dies vorweg: Ich habe den Artikel nicht gelesen, aber angesichts dieses Aufschlags ist das wahrscheinlich auch nicht notwendig. Frau Kemfert hat sich, wieder einmal, klar positioniert. Wenn der Preis pro Megawattstunde im Spotbörsenhandel von durchschnittlich 50 bis 100 Euro auf 1.500 Euro und mehr steigt, ist dies für Frau Kemfert und ihre Interessengruppe Zeichen eines funktionierenden Marktes. Wenn also im nächsten Jahr für Durchschnittsverbraucher der Preis von etwa 10 bis 20 Cent in Altverträgen auf über einen Euro wuppt, sind das die Späne, die nun einmal beim Hobeln des Energiemarktes anfallen.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich bin ein uneingeschränkter Befürworter erneuerbarer Energien. Strom aus Wind, Sonne und Wasserkraft ist nicht nur sauber, sondern in den Gestehungskosten auch nahezu kostenlos. Die jahrzehntelang ins Feld geführte Versorgungssicherheit der fossilen Energieträger hat sich spätestens in diesem Jahr erledigt und war immer nur ein Argument für die Leute, die in fossilen Energieträgern noch Aktien oder andere Pfründe hatten. Saubere Energie, hergestellt und verkauft in einem rechtsstaatlichen System ist eine gute Sache — problematisch wird es aber, wenn diese Energie zu Spekulationsgut wird.

Von der Graswurzel zur fleischfressenden Pflanze

Die Älteren werden sich vielleicht erinnern: Erneuerbare Energien, das war in Deutschland lange eine Sache für bärtige Menschen in zu weiten Wollpullovern. Sie profitierten von einem harmlosen Image und dies völlig zu Recht: Schufen die Befürworter erneuerbaren Stroms doch eine Zukunftsvision, die das menschliche Grundrecht auf eine funktionierende Energieversorgung auf eine demokratische Grundlage stellen sollte. Strom sollte von Bürgern erzeugt und lokal verkauft werden, nicht quer durch Land transportiert werden, Netze belasten, Transportverluste verursachen und Aktionäre reich machen. Je nach politischem Standpunkt, ob ökologisch oder linkslastig, war das eine oder das andere mehr oder weniger wichtig. Was jedoch in keinem Fall passieren sollte, war Strom zu einem Spekulationsgut zu machen, wie dies bei Öl und Gas schon längst etabliert war. Denn mit dem Hintergrund der Ölkrise zu Beginn der 70er Jahre war den Initiatoren der Energiewende klar, das Öl neben seinem klimaschädlichen Eigenschaften eine Wirkung auf Volkswirtschaften nur vergleichbar mit Heroin entfaltet: Ist die Versorgung mit dem lebenswichtigen Stoff gesichert, geht es allen gut — setzt der Nachschub aus, zeigen sich massive Entzugserscheinungen.

Grün bemänteltes Maximalgewinnstreben

Mit dem Siegeszug neoliberaler Ideen und dem festen Willen aus jedem feuchten Furz ein erfolgreiches Startup machen zu wollen ging die Politik jedoch nach den zaghaften Anfängen in den 1990er Jahren daran, aus den erneuerbaren Energien ein volkswirtschaftliches Vorzeigeprojekt zu machen. Um das Dotcom-Blasenjahr 2000 stand natürlich völlig außer Frage wo die Reise hingehen würde: An die Börse. Denn nur an einer Börse, wo sich der Energiepreis völlig frei entfalten kann, kann auch ein völlig freier Energiemarkt entstehen.

Übersehen hatte man dabei freilich, dass der normale Stromkunde mit seinem Haushaltsstrom Tarif niemals wirklich frei sein kann. Er muss Strom beziehen, ob er will oder nicht. Hier zu schließen Haushaltsstromkunden Laufzeitverträge ab, die ihnen Preise für eine gewisse Zeit garantieren. Steigen die Preise eines Lieferanten an, geht man halt zu einem anderen. doch was passiert, wenn alle Lieferanten mit dem Haushaltseinkommen völlig unvereinbare Preise aufrufen, da sie selbst zu 100% von den Strompreisen "am Markt" abhängig sind?

An den deutschen Universitäten mit Lehrstühlen in Energiewirtschaft stellten jedenfalls die ersten cleveren Studierenden die Ohren auf: Immer schon vom Primat des Anteils der "Wirtschaft" in ihrem Studiengang getrieben witterten sie an einem völlig liberalisierten Strommarkt fetten Reibach — man würde es dem Lande nur schmackhaft machen müssen. Was wäre es doch für eine schöne Idee, das komplette unternehmerische Risiko der Energieerzeugung auf ein Netzwerk aus Energieproduzenten abzuwälzen und sich selber nur die Sahne vom Kuchen zu nehmen — den Strom also so profitabel wie möglich an der Börse zu verkaufen und dafür noch subventioniert werden? Schnell noch ein grünes Mäntelchen übergeworfen, eine Unternehmensvision von 100% erneuerbaren Energien in den Äther posaunt und schon war es geboren: Das preisüberhäufte deutsche Startup-Wunderkind Next Kraftwerke, zu dessen ganz großen Freundinnen seit der Gründung in 2009 eben jene Claudia Kemfert zählt.

Glyphosat auf die Graswurzeln

Das virtuelle Kraftwerk für erneuerbare Energien von Next Kraftwerke hatte von Anfang an vor allem das Ziel, sich schnell und machtvoll am Strommarkt zu positionieren. Gigawattweise wurden im ganzen Land Energieerzeuger unter Vertrag genommen, die mit technisch simpler, aber um so nachdrücklich als innovativ beworbener Regeltechnik an ein virtuelles Kraftwerk angeschlossen wurden. Gemeinsam mit der unternehmenseigenen Stromhandelsabteilung entwickelte sich dies schnell zu einem Millionengeschäft. Nicht nur hatte man bei Next Kraftwerke die eigentliche Idee der Energiewende von der dezentralen Energieversorgung elegant durch die Hintertür monopolisiert, sondern sich über die Jahre auch ein kräftiges Stück vom Subventionskuchen gesichert — jener EEG-Umlage, die es 2022 abgeschafft wurde und von jedem Stromkunden bezahlt werden musste (außer natürlich von denen, die es sich leisten konnten aus der Umlage auszusteigen).

Das Kölner Startup wurde dabei nicht müde zu betonen, dass all seine Aktivitäten nur der Durchsetzung von 100% erneuerbaren Energien in Deutschland, in Europa, ach was in der ganzen Welt zu Diensten seien. Politiker aller Parteien, natürlich vorrangig die grünen und gelben Fraktionen, gaben sich im Firmenloft die Klinke in die Hand und stellten fest, dass sie längst mehr Gemeinsames als Trennendes zu besprechen hatten. Das heißteste Startup die "grünen" deutschen Energiebranche betonte dabei immer wieder, dass nur der hundertprozentig freier Strommarkt Heilsbringer der Volkswirtschaft und Verwirklicher der Energiewende sein könne. Die durchaus fetten Gewinne, die offenbar nicht der eigenen Belegschaft, sondern in erster Linie den Investoren und Geschäftsführern zugute kamen, weckten irgendwann auch in der konventionellen Energiewirtschaft Begehrlichkeiten — vor allem aufgrund der Marktmacht des Unternehmens.

Anfang 2021 wurde das vom Frau Kemfert immer wieder sowohl besuchte als auch gepriesene Unternehmen für 100% erneuerbare Energien schließlich krokodilstränenreich an den ehemaligen Antichristen Shell verkauft. Pressemitteilungen freuten sich an dem fetten Cashout für Investoren und Geschäftsführer, für die Anwohner des von Shell ölverseuchten Nigerdeltas blieben solche Cashouts natürlich bislang aus. Aus der Graswurzelbewegung wurde so richtig dickes übles Energiebusiness — weder dem Ruf von Next Kraftwerke noch dem Ruf von Frau Kemfert hat dies bisher geschadet.

2022: Der BMI der grüngelben Raupe steigt besorgniserregend

Ein freier Markt basiert auf dem Prinzip von Angebot und Nachfrage, mit diesem Wissen steigen auch junge Energiewirtschaftler in ihr Studium ein. Dieser setzt voraus, dass sowohl Angebot als auch Nachfrage flexibel auf die vorhandene Menge eines Gutss reagieren können. Doch was passiert, wenn die Angebotsseite die Bedingungen des Marktes und den Preis bestimmt und die Nachfrageseite nicht durch verminderte Nachfrage auf den Preis ausgleichend wirken kann? Nicht so richtig liberal, oder? Natürlich können die deutschen Haushalte und Unternehmen Strom sparen, aber man an kann nicht 15 mal weniger Strom verbrauchen — man kann aber durchaus 15 mal mehr Euro pro Kilowattstunde verlangen.

Die von Frau Kemfert, Next Kraftwerke, ihren Spießgesellen und vielen anderen radikalmarktwirtschaftlichen Ohrenbläsern getriebene deutsche Energiepolitik ist im Herbst 2022 dabei, die Energiemärkte im Sinne der Marktliberalität mit Vollgas (no pun intended) vor die Wand fahren zu lassen. Die einzigen Konzepte, die ernsthaft diskutiert werden, sind staatliche Subventionen um die Fraßschäden des dicken grüngelben Monsters auszugleichen, dass man selbst geschaffen hat. Dass der Strompreis, wie der Preis von Aktien an Aktienmärkten, letzten Endes auf einer Fiktion beruht, wird dabei völlig außen vor gelassen. Nirgendwo ist in Deutschland der Strom ausgefallen jemals der Strom ausgefallen, weil der Strompreis gestiegen oder gefallen ist - die Versorgungssicherheit geht, koste was es wolle, immer vor. Aber der "koste"-Teil dieses Satzes wird nur von Unternehmen und Verbrauchern getragen, die nach zwei Pandemiejahren sowohl gedulds- als auch cashflowmäßig wirklich nicht auf der Höhe ihrer marktwirtschaftlichen Performance sind.

Die realen Folgen des marktradikalen deutschen Energiesystems zeigen sich so an jedem dunklen Küchentisch, in den vollen Arbeitsagenturen und in jeder unzureichend geheizten und beleuchteten Schule. Noch mal deutlicher: Grätscht die Politik hier nicht dazwischen, setzt den Handel aus (wie es auch im Aktienmarkt in Krisenzeiten üblich und geboten ist) oder führt Preisobergrenzen ein, werden die Kinder des armutsbetroffenen Drittels der Bevölkerung in diesem Winter frieren und/oder im Dunkeln sitzen. Die Folgen der Stoffwechselprobleme, welche zu fette grünlackierte, gelbe Raupen in unserem Land verursachen, sind bei weitem noch nicht abzusehen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Matthias Wagner

Privat ganz nett.

Matthias Wagner

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