Der Herzschlag des anderen

Bilderbuch Mit "Die Umarmung" legen David Grossmann und Michal Rovner ein Kinderbuch vor, das ­erwachsener ist als jede ­erwachsene Philosophie: Es gibt kein zweites Buch wie dieses

Alle Welt umarmt sich, es ist ein Graus. In nur 26 Bildern auf 36 Seiten haben der israelische Schriftsteller David Grossman und sein Zeichnerkollege Michal Rovner nun eine kleine, alltägliche Geschichte erzählt, um zu erklären, warum die Umarmung erfunden wurde. In ihrer Beiläufigkeit, Zurückgenommenheit und Intimität ist sie zugleich eine zarte Polemik gegen die rohe Allgegenwart einer Geste, mit der sich Erkaltete ihr schnödes Aufeinanderangewiesensein als wärmende Gemeinschaftlichkeit vorspiegeln. Ihre Figuren sind der kleine Ben und seine Mutter, die während eines nachmittäglichen Spaziergangs durch die Felder zu ihm sagt: „Ich hab dich lieb, keiner auf der ganzen Welt ist so wie du!“ Als Ben daraufhin traurig wird, weil er will, „dass es noch jemanden gibt, der so ist wie ich“, um nicht allein sein zu müssen, erklärt ihm seine Mutter, dass es keinen einzigen Menschen gibt, der so ist wie man selbst, dass man sich aber nicht allein fühlen muss, nur weil man allein ist. Vielmehr sei „jeder ein bisschen allein und ein bisschen mit den anderen“, und genau das spüre man, wenn man einander in den Arm nehme. Man fühlt dann den Herzschlag des anderen, den man sonst nur selber kennt, und erfährt den, der nicht ist wie man selbst, als einen Ähnlichen: „Genau dafür wurde die Umarmung erfunden.“

Die einzigen Figuren, die in der Geschichte noch vorkommen, sind Tiere: Bens kleiner Hund Miracle – „auf der ganzen Welt gibt es nur einen Miracle wie ihn“ –, ein Schwarm Störche auf der Reise in ferne Länder sowie eine Ameisenprozession: „Es waren sicher tausend Ameisen oder mehr. Und alle sahen gleich aus, wie tausend Ameisenzwillinge. Aber als Ben genauer hinsah, entdeckte er, dass eine Ameise sehr flink lief, eine andere dagegen sehr langsam. Eine kämpfte mit einem großen Blatt, und eine andere trug nur ein winziges Samenkorn. Und dann gab es da eine klitzekleine Ameise, die an dem Zug der anderen immer auf und ab lief.“ Doch da das Buch weder eine Tierschutzparabel noch eine Ethikfibel ist, hat die Mutter auf die Frage, ob auch diese Ameise wisse, dass sie einzigartig ist, keine Antwort.

Zart und behutsam

Dass alle anders sind und alle gleich, dass jedes Lebewesen den anderen darin gleicht, dass es anders ist als sie alle, ist eine Einsicht, aus der sich keine Gemeinschafts­ethik begründen lässt, ohne die es aber die Möglichkeit zur individuellen Liebe nicht gäbe. Und genau um deren Rettung geht es in Grossmans und Rovners kleinem Buch. Sie haben ihm die einzige Form verliehen, die angesichts der Zerbrechlichkeit und Ohnmacht seines Gegenstandes verstattet ist, und ein Kinderbuch geschrieben, das erwachsener ist als jede erwachsene Philosophie, oder auch ein philosophisches Werk, das einfacher und einleuchtender ist als jedes Kinderbuch. In den schnörkellosen, unpathetischen Sätzen Grossmans klingt von ferne die spröde Güte chassidischer Erzählungen nach, Rovners Zeichnungen sind so klein, fein und genau, als wollten sie sich dem drohenden Verschwinden dessen, dem sie Ausdruck verleihen, so weit wie möglich anähneln. Die wenigen Colorierungen sind so zart und behutsam, dass sie unmerklich ins Grau der Zeichnungen übergehen, wie die Erfahrungen des Glücks nie die Welt überstrahlen, in der sie erscheinen. „Es gibt also immer von jedem nur eins auf der Welt?“ fragt Ben seine Mutter. „Nur eins von jedem“, antwortet sie und gibt damit der Sehnsucht nach Nähe, welche die Umarmung erfüllt, ihren einzig verbindlichen Grund. Auch ein Buch wie dieses gibt es kein zweites Mal, eben das macht seine Wahrheit aus.

Die UmarmungDavid Grossmann
Mit Zeichnungen von Michal Rovner, Hanser 2012, 36 S., 9,90

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