Eine Kriegsenkelerinnerung aus dem Ruhrgebiet

Ein Blick zurück. Großartig, die kleine, enge Welt meiner Jugend, in der wir als Ruhrgebietsfamilie beschauliche Urlaube im Sauerland verbracht haben. Ich suche, was davon übrig ist.

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Erstmals 1976, im zarten Alter von vier Jahren, habe ich das Dorf S. im Sauerland kennen gelernt. Mein Vater, schon immer ein Freund der Natur, hatte es entdeckt und an einem heißen Wochenende im Sommer '76 fahren meine Eltern mit meiner Schwester und mir im roten VW-Käfer erstmals dort hin, um sich einige Ferienwohnungen anzusehen. Die Wahl fällt schließlich auf eine kleine Wohnung im zweiten Obergeschoss der Pension M. Die Pensionswirtin und ihr Mann sind nette Leute und schon bei der Besichtigung verstehen meine Eltern sich mit ihnen gut. Wochen später verbringen wir den ersten Urlaub bei M.'s und es sollen ihm in den kommenden 25 Jahren fast 30 weitere folgen.

Mehrmals im Jahr zieht es uns nach S. Nicht nur in den Sommerferien, die wir in späteren Jahren auch an Nord- und Ostsee verbringen, weil meine Mutter glaubt, uns gesundem Reizklima aussetzen zu müssen, sondern hauptsächlich in den Osterferien und vor allem in den einwöchigen Herbstferien treibt es uns nach S.

Meine Eltern sind bürgerliche Leute mit überschaubarer Geldbörse. Weite Reisen mit dem Flugzeug sind nicht drin und auch im sozialen Umfeld meiner Eltern nicht üblich. Im Gegenteil, dass wir uns mehrere Male im Jahr Urlaub erlauben – wenn auch nur im Sauerland -sorgt zuweilen für Verwunderung.

In den achtziger Jahren erlaubt meine überbehütende Mutter, dass meine Schwester und ich sogar ohne elterliche Aufsicht nach S. fahren. Am letzten Schultag vor den Herbstferien stürzen wir regelmäßig in den Zug, der damals noch am Hauptbahnhof unserer Heimatstadt im Ruhrgebiet abfährt und ohne Umstieg bis S. durchfährt. Das ändert sich, als ich etwa in der neunten Klasse bin. Die Eisenbahnbetriebe beginnen, Strecken stillzulegen und Zugverbindungen zu reduzieren. So müssen wir zuerst nach Schwerte an der Ruhr und dort mit einem so genannten Triebwagen bis nach Bestwig fahren. Meist werden wir dann von Herrn M. mit dem Auto abgeholt.

Zur Begrüßung bekommen wir von Frau M. immer Kuchen und selbst gemachten Himbeersaft. Davon träumen wir das ganze Jahr. Und dann nutzen wir es aus, die Wohnung im zweiten Stock ganz für uns zu haben. Wir führen quasi unseren eigenen Haushalt, meine Schwester kocht und ich helfe ihr. Manchmal werden wir aber auch herausgefordert. Im Badezimmer kommt das heiße Wasser aus einem Boiler. Ewig dauert es, bis er voll gelaufen ist und beim Haare waschen ist immer noch Schaum auf dem Kopf, wenn das Wasser schon wieder kalt ist. Das nervt uns ebenso wie die Nachtspeicherheizungen, die immer zur falschen Zeit heiß sind. Meine Mutter mahnt uns streng zur Sparsamkeit und so ist es im Herbst und Frühjahr schon oft so kalt in der Wohnung, dass wir im Bett Socken tragen.

Hunderte Male laufen wir die gleichen Wanderwege um den Hömberg, aufs Käppelchen, in die Krämerhöhe, zum Bergsee, durch den Trimmpfad und so weiter, und so weiter…

Im Dorf kaufen wir beim Tante-Emma-Laden regelmäßig unsere Kaugummis, die wir nach dem Kauen an den Zaun gegenüber von M.'s Haus kleben und jedes Jahr beim Wiederkommen gucken, ob sie noch da sind.

M.'s nehmen uns mit zum Kegeln und wir lernen allerhand Dorfbewohner kennen. Und in den Jahren 1985 bis 1990 besuchen wir im Hotel L. immer das Budapester Kurorchester, das im Sommer Wiener Schmähmusik für alte Leute spielt. Was uns daran gefällt, kann ich heute nicht mehr sagen. Vermutlich genießen wir es, unter den ganzen Alten im Mittelpunkt zu stehen. Und so sind wir im Dorf auch recht bekannt. M.'s werden regelmäßig gefragt, was die Mädchen aus dem Ruhrgebiet denn machen und sie selbst werden für uns zu einer Art Großelternersatz.

In den neunziger Jahren nehmen die Urlaube in S. ab. Meine Mutter hat die Nordseeinsel Amrum für sich entdeckt, auf die wir ihr ebenfalls gerne folgen und letztlich sind wir wohl erwachsen geworden. Das Leben in der Familie hält manches bereit, das gemeinsame Urlaube nicht mehr möglich erscheinen lässt – und das hat nicht nur etwas damit zu tun, dass wir als Studentinnen eigene Wege gehen. Und so liegt der letzte gemeinsame Sauerland-Urlaub wohl irgendwo in der ersten Hälfte der neunziger Jahre.

Im Herbst 1997 fahre ich in meinem ersten selbst bezahlten Urlaub mit hessischem Gehalt allein eine Woche nach S. Im Hause M. bekomme ich natürlich wieder die alte Wohnung mit Nachtspeicher und Boiler, und die Pensionswirte kümmern sich um mich wie um ein eigenes Kind. Ich trabe die altbekannten Wanderwege entlang und habe dabei wohl eines der bizarrsten Erlebnisse meines bisherigen Lebens: In einer Holzhütte nahe der Bahngleise finde ich die Leiche eines jungen Mannes. Der Unglückliche hat sich an einem dünnen Paketstrick erhängt und stiert mich sprachlos an. In diesem Moment erfahre ich, was es heißt, seinen Augen nicht zu trauen.

Der Tote ist Gesprächsthema Nr. 1 im Dorf und seine Geschichte erzähle ich meinen Freunden später immer und immer wieder. Und manchen erzähle ich auch, dass ich in der Nacht nach der Begegnung mit ihm nicht schlafen kann und die Lampe im Zimmer wieder anschalte, damit ich nicht von ihm träume. Mein Freund, dem ich Jahre später davon erzähle, nennt ihn respektlos den "roten Hugo", in Reminiszenz an die Textzeile in SPLIFFs altem Song 'Deja vu': "Der rote Hugo hängt tot im Seil, die Leiche stinkt nach Shit." Aber mein Hugo stinkt nicht. Er ist von herbstlich kalter Luft gut konserviert.

2001 schleppe ich meinen Freund für eine Woche nach S. Meine Begeisterung für das Sauerlanddörfchen teilt er naturgemäß nur bedingt, lässt sich aber darauf ein, mit mir die alten Wanderwege entlang zu laufen. Mit dem Auto, das heute längst kein VW-Käfer mehr ist wie 1976 bei meinen Eltern, durchkämmen wir in fünf Tagen nicht nur den gesamten Hochsauerlandkreis, sondern auch noch das angrenzende Siegerland.

Im Juli 2007 schiebe ich meinen fast 80jährigen Vater vom Sessel des Seniorenheimes, in dem er sich gerade befindet, in einen geliehenen Golf und wir sausen ins Sauerland. Unausgesprochen einigen wir uns auf eine Tour nach S. und letztlich ist es meinem Vater zu verdanken, dass wir unangemeldet bei den inzwischen ebenfalls betagten M.'s klingeln. Wie in all den Jahren gibt es Kaffee, Kuchen und Frau M.'s selbst gemachten Himbeersaft. Frau M. und ich plaudern munter und sie behauptet, der Vater sehe gut aus. Nun, das tut er nicht. Im Gegenteil, er sieht eigentlich ziemlich schlecht aus und ich habe Mühe, ihn an den Küchentisch zu setzen. Aber er ist noch einmal dort und das ist gut so. Es ist sein letzter Besuch in S.

Als ich mir im Folgesommer ein neues Motorrad kaufe, ist S. mein erstes größeres Reiseziel. Nach dem sonderbaren Jahr des Abschiednehmens treibt es mich an die alten Stätten der Kindheit. Und so schwinge ich mich auf und erreiche Samstagmittag mein Ziel. Familie M. vermietet schon lange keine Ferienwohnungen mehr, so dass ich mir ein Zimmer im Gasthof G. miete. Der sieht eigentlich noch so aus wie 1976, nur dass das 32 Jahre später eben nicht mehr so schön ist.

Das Haus ist schlecht besucht und der Gastwirt, ein lieber, humorvoller Mann, wirkt ein bisschen traurig. Die Zeiten, in denen sich im Sauerland Ruhris und Holländer in Massen vergnügt haben, sind eben vorbei. Aber für meine Zwecke ist das Zimmer im "Neubau", gehalten im Charme der siebziger Jahre lange frisch. Außerdem kann der Gastwirt gut kochen.

Ein kleiner Spaziergang durchs Dorf zeigt mir am Nachmittag, dass sich hier Manches verändert hat. Der Bäcker, welcher uns immer die Brötchen ins Haus gebracht hat, ist geschlossen. Im Fenster hängt ein Schild "zu verkaufen". Schon seit ein paar Jahren. Der Supermarkt A&O ist aus der Ortsmitte verschwunden. Stattdessen findet sich am Ortsausgang, wo früher ein vorzüglicher Kinderspielplatz war, ein großer Supermarkt, der für die alten Dorfbewohner zu Fuß gar nicht mehr zu erreichen ist.

Ich laufe zur Krämerhöhe und genieße den Blick über das Tal. Die Landschaft hat sich verändert. Gähnende Löcher sind in die Wälder gerissen. Ganze Quadrate von Wald sind verschwunden. Zum Opfer gefallen sind sie Kyrill, dem Sturm, der vor einigen Jahren in Deutschland gewütet hat. Manche Dorfbewohner sagen, jetzt habe man einen freien Blick. So kann man das natürlich auch sehen.

Am Nachmittag besuche ich die Eheleute M. - unangemeldet. Sie freuen sich und Frau M. bewirtet mich wie immer mit Kaffee und Plätzchen. Nur Saft gibt es diesmal nicht. Und ich frage auch nicht danach. Mir reicht der Kaffee. Ich bin eben älter geworden.

Alt geworden sind auch meine beiden Pensionswirte. Herr M. ist 90 Jahre alt. Da ist das Leben anders. Aber beide kommen noch zurecht. Ihr Tagesrhythmus ist gut eingespielt und so funktioniert, was seit über 50 Jahren funktioniert. Ich frage Frau M. ob sie mit ihrem Leben zufrieden sei. Sie ist's und sagt, sie und ihr Mann haben im Leben gar keine Zeit gehabt, sich zu streiten. Immer habe man etwas zu tun gehabt, um den Alltag zu organisieren. Und sie sagt noch etwas, das ich sehr bemerkenswert finde. Sie sagt, man soll nichts auf später verschieben, weil es manchmal kein später gibt.

Das macht mich sehr nachdenklich, wie mich überhaupt diese Reise in die Erinnerung nachdenklich macht. Ich verlasse M.'s Haus kurz vor elf und trete in die laue Nacht. Die Luft riecht nach Sommer. Sommer in S. So hat er immer gerochen. Das hat sich nicht verändert. Verändert hat sich mein Leben. Eine Familienfahrt nach S. wird es nicht mehr geben, aber ich werde bestimmt immer wieder allein hierher zurückkehren und nach den alten Bildern in meinem Inneren suchen.

Kriegsenkel, der Begriff hat in den letzten Jahren Konjunktur gemacht. Ich kann etwas damit anfangen und befasse mich seit 2005 mit der Frage, welchen Einfluss die Kriegskinder-Biographien meiner Eltern auf mein eigenes Leben haben. Diese Auseinandersetzung bringt manche Erinnerung an frühe Tage hervor, erweckt das typische Lebensgefühl unserer beschaulichen heilen Welt der siebziger und achziger Jahre, um die meine Eltern sich so bemüht haben und die doch manche Risse hatte...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Malahia Malahios

Aus der Mitte des Lebens in die Welt blickend, schreibend, singend, denkend...

Malahia Malahios

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