Metaphernmeer

Sumpf Die Biotech-Zukunft kommt uns entgegen wie eine Flut. I. L. Callis’ Thriller bereist diesen düsteren und schwankenden Ozean
Ausgabe 45/2018

Stellen wir uns die Zyklen des Fortschritts der letzten 130 Jahre als Gezeiten vor, so setzt mit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Flutwelle ein, die ihren schrecklichen Höhepunkt in den Abwürfen der Atombomben findet. Dann ebbt die Entwicklung in der zweiten Hälfte dieses von Drangsal durchsetzten 20. Jahrhunderts ab, bis sie seit dem Zusammenbruch des Ostblocks von einer neuen Flut abgelöst wird.

Wir Zeitgenossen, die wir uns geistig – allein was unsere und unserer Ahnen Lebenszeit angeht – in den letzten beiden Jahrhunderten bewegen, schauen wie ein verstörtes Kaninchen auf die aktuelle, von elektronischer Gischt umtoste Flutwelle, die uns mit ihrer allmächtigen Wahrnehmung und einem womöglich totalen Bewusstsein unter sich zu begraben droht.

Selbstverständlich findet diese Verstörung auch in der Literatur ihren Niederschlag, erlebt der dystopische Roman in sämtlichen wissenschaftlichen Fakultäten eine Hochblüte. Wenn uns Jules Verne noch vor 120 Jahren eine Zukunft voller technischer Verheißungen versprach, führt heute Dave Eggers Google zur totalitären Konsequenz und lässt einen Frank Schätzing vor KI erschaudern.

Auf den meisten Romanen über den ökologischen und finanziellen Kollaps prangt dieser gleich titelgebend, verkaufsfördernd auf dem Umschlag. Ja, uns überanstrengten Geistern ist die Technologieeuphorie gehörig verleidet. Mit Das Alphabet der Schöpfung leuchtet die italienisch-deutsche Schriftstellerin I. L. Callis nun ein bisher noch nicht ausreichend gewürdigtes Angstfeld angemessen und äußerst spannend aus: die Erbgut- und Genmanipulation. Mit den Mitteln des Thrillers wird hier, brillant recherchiert – die Autorin hat mit Molekularbiologen, Forensikern, Ethikexperten gesprochen –, der gerade Weg in die biologische Hölle eingeschlagen.

Journalist bekommt von altem Freund, der ein erfolgreiches Biotech-Unternehmen leitet, den hoch dotierten Auftrag, ein PR-Buch zu verfassen, stößt dabei auf einen komplett skrupellosen, allein profitorientierten Apparat, der nach allen Regeln der neoliberalen Firmenkultur die Rolle des guten alten „Mad Scientist“ ausfüllt. Hier ist das aber kein einzelner Irrer, der mit weißem Arztkittel am Ding aus dem Sumpf werkelt, hier ist es die Schwarmintelligenz von Hundertschaften emsiger Millennials, die mit ihrer stumpfsinnigen Begeisterung und dem kaltarschigen Ehrgeiz doch sehr an die im Berlin-Mitte des wirklichen Lebens herumhüpfenden Boylies and Girlies erinnern. Da dieser hochgefährliche Konzern namens Phoenix tatsächlich, wenn auch in Dahlem, so doch in Berlin angesiedelt ist, liest sich das sehr amüsant. Ebenso, dass das ultimative, uns alle vernichten könnende Grauen aus dem Spandauer Wald kommen wird. Es besteht keine Spoilergefahr, wenn ich verrate, dass damit nicht etwa ein genetisch neu sequenzierter Rudolf Heß gemeint ist, der aus dem wiederaufgebauten Spandauer Kriegsverbrechergefängnis wankt.

Parallel zu der Recherche des Journalisten entdeckt eine Molekularforensikerin bei den Ermittlungen nach einem verschwundenen Kind mit der Entdeckung von unmöglicher DNA ihren Shock-and-Awe-Moment, und so bündelt sich das Geschehen unaufhaltsam, begleitet von in immer kürzeren Abständen einschlagenden Todesfällen, zu einem äußerst blutigen Showdown in ebenjenem geschichtsträchtigen Forst. Klugerweise bleiben am Ende trotz all der Toten die aufgerissenen Fragen genauso offen wie deren Wunden. Das Schaudern darüber ist ein wirkungsvolles Werkzeug, um die Öffentlichkeit für einen Zweig des Fortschritts zu sensibilisieren, der hier direkt in die Steinzeit führt.

Mittlerweile beginnt sich in breiten Gesellschaftsschichten ein tief sitzendes Misstrauen gegen ein als alternativlos empfundenes Wirtschaftssystem herauszubilden, das alle Aspekte unseres Lebens durchdringt und beherrscht. Wir ahnen, dass Wissenschaft und Entwicklung, seien sie auch noch so altruistisch und das Leben verbessernd, im Mahlstrom der Gewinnmaximierung zu einem totalitären, zerstörerischen und beengenden Alptraum werden.

Unter diesen Umständen zielt die Frage, ob der Planet noch zu retten ist, am Wesentlichen vorbei. Der Geist ist aus der Flasche, die Büchse der Pandora geöffnet, das Kind in den Brunnen gefallen. Wir können nur noch die Metaphern frei wählen. Die Frage ist viel mehr, ob sich unser Denken, das noch immer tief in einer mechanischen, analogen Welt verhaftet ist, den neuen Realitäten anpasst. Ob es dieses rußige, dreckige, auf Verbrennen und Verpuffen basierende Getriebe überwinden kann.

Es gab schon einmal einen ähnlich großen Entwicklungssprung. Nur 60 Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks konnten in Europa rund zwei Drittel der Bevölkerung lesen und schreiben. Eine in nur zwei Generationen explodierende Alphabetisierung, welche die Reformation und den Dreißigjährigen Krieg nach sich zog, an dessen Ende erste Formen einer modernen, säkularen Staatsführung standen. Wer lesen und schreiben kann, denkt anders, der Gegenstand der Gedanken wird von der Schrift auf eine andere, von der Welt losgelöstere, abstraktere Ebene gehoben.

Bücher können Nägel sein

Die jetzigen Probleme, trotz oder wegen des Fortschritts, sind derart umfassend und systemisch, dass sie ebenfalls nur mit einem neuen Denken bewältigt werden können. Dieses Denken allerdings wird sicher nicht von Gewinnmaximierung dominiert sein. Besitz, Wachstum und – ja, auch das – Nationalstaaten werden zum Beispiel bei der Bewältigung der Folgen des Klimawandels keine Rolle mehr spielen können. Wenn man sieht, wie zäh und gewaltsam Adel und Klerus ihre Vorherrschaft verteidigten, kann man sich in etwa vorstellen, wie hart Alphabet, Facebook und alle anderen Günstlinge der Profitprivatisierung kämpfen werden, wenn es daran geht, das neue, von Ausbeutung und Bereicherung abstrahierte Denken abzuwehren.

Bücher wie Das Alphabet der Schöpfung sind erste kleine Nägel in den Sarg dieser alten Welt. Es steht darin geschrieben, dass wir gewarnt waren.

Info

Das Alphabet der Schöpfung I. L. Callis Emons 2018, 464 S., 22 €

Bilder des Spezials

Ben Zank wurde 1991 geboren, er lebt in New York City. Mit 18 entdeckte er die Fotografie, als er auf dem Dachboden seiner Großmutter eine Pentax ME Super fand. Eigentlich ist er Journalist, aber oft findet er mit der Fotografie besser zu seiner Sprache. Anzüge, das sind kühle Bilder voll monochromatischer Spannung, die ein diffuses Gefühl von Intrigen, Verlassensein und Ereignis hervorrufen. Die Figuren sind gesichtslos, anonym, ihre Aktionen choreografiert und undurchsichtig. Zank ist inspiriert vom Surrealismus René Magrittes, er verwendet die Symbole der Epoche – einen Hut mit breiter Krempe oder ein Fahrrad. Zu sehen ist eine Noir-Traumlandschaft, die Fragen nach der Art der eingesetzten Symbole aufwirft: Sind sie eine Allegorie? Zank sagt: „Jedes Bild ist ein eigener kleiner Roman, den jeder auf seine Weise lesen kann.“ Mehr Information auf benzank.com

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