Wenn sich in den USA in einem schleichenden Prozess Millionen Menschen in einer Drogenabhängigkeit befinden und innerhalb von 25 Jahren sagenhafte 450.000 Todesopfer wegen opioid-induzierter Überdosen zu beklagen sind, die Toten weltweit nicht eingerechnet, muss dahinter eine systemische Ursache stecken, kann das nicht allein mit individuellen Suchtveranlagungen erklärt werden. Im Falle des Opioids Oxycontin können Ross und Reiter genau benannt werden, denn diese gesellschaftliche Katastrophe wird seit der ersten Sammelklage 2019 vom Bundesstaat Massachusetts juristisch aufgearbeitet. Das Imperium der Schmerzen von Patrick Ralden Keefe ist das Buch dazu.
Es sind die 1940er. Drei Brüder, deren Talent, Ehrgeiz, Geltungsdrang und Gier einen knallbunten Cocktail mixen,
en Cocktail mixen, bilden den Mittelpunkt. Treibende Kraft ist der Älteste, Arthur Sackler. Die Eltern sind jüdische Einwanderer aus Polen. Der unbedingte Wille zum Aufstieg lässt alle drei Medizin studieren, in einer Zeit, in der der Arztberuf gerade den Übergang vom Quacksalbertum in die Sphären weißer Halbgötter vollzieht.Dem Erfolg äußerst dienlich ist Arthur Sacklers Gespür für Marketing. Ende des Jahrzehnts beginnt sich in der Gesellschaft das Karussell von Konsum und Leistung zu drehen, der Stress wird erfunden. Arthur Sackler schafft es als Teilhaber einer Werbeagentur für den Hauptkunden Roche, den Schweizer Pharmariesen, Valium sowie für Pfizer Librium zu wahren Bestsellern zu machen. Schon in dieser frühen Phase werden die Risiken der Abhängigkeit heruntergespielt oder ganz verschwiegen. So ergibt sich bereits Ende der 1950er die Situation, dass ein extrem umtriebiger Geschäftsmann hauptursächlich verantwortlich dafür ist, dass immer breitere Bevölkerungsschichten, vornehmlich im aufstrebenden Mittelstand – also genauso umtriebig und ehrgeizig wie er, aber eben gestresst –, so sediert sind, dass sie gerade noch Arbeit und Alltag bewältigen können, während die Ängste und der Stress von den chemischen Keulen ausgeknockt werden, was sie im Grunde zu Junkies macht.Der erste Teil von Keefes Buch schildert den Aufstieg der Sackler-Brüder. Wir erleben dabei, wie Arthur, ganz dem Zeitgeist folgend, ihn womöglich sogar prägend, in den 50ern beginnt, die Psyche als rein biochemischen Prozessor zu verstehen, wie sich dank neuartiger, von den Brüdern mitentwickelten Uppers und Downers die Psychiatrien, in denen bis dahin mittelalterliches Elend herrschte, zu leeren beginnen und wie sie, von diesen Erfolgen beflügelt, ein regelrechtes Imperium aufbauen, immer darauf bedacht, die entstehenden Interessenkonflikte durch Strohleute zu verschleiern. So schaltet bald das eigene Pharmaunternehmen (Purdue Frederick), in der eigenen Ärztefachzeitschrift (Medical Tribune) von der eigenen Werbeagentur in der Madison Avenue (William Douglas McAdams) hergestellte Inserate für die neuen Wunderpillen.Doch erst die zweite Sackler-Generation, angetrieben von Richard Sackler, Raymonds Sohn, bringt mit der Entwicklung des Schmerzmittels MS Contin die Dynamik richtig ins Rollen. Beschichtet mit einer Substanz, die Oxycodon, ein doppelt so starkes Opioid wie Morphin, über mehrere Stunden verteilt in den Blutkreislauf einleitet, werden die Schmerzpillen wegen dieses Effekts mit nur geringem Suchtpotenzial aggressiv beworben, und 1996 wird schließlich der absolute Schmerzkiller Oxycontin von dem mittlerweile Purdue Pharma heißenden Konzern auf den Markt gebracht. Hinter dem Konzern stehen nach wie vor die noch lebenden Brüder Raymond und Mortimer. Arthur verstirbt bereits 1987 und bleibt vor allem als Philantrop und Kunstsammler, speziell von chinesischen Antikmöbeln, in Erinnerung. Auch die Brüder sind eifrige Kunstmäzene, stiften mitunter ganze Museumstrakte und Stipendien, sorgen aber peinlich genau dafür, nicht mit Purdue Pharma in Verbindung gebracht zu werden.Straßenname: „Purple Peeler“Die Vermarktung von Oxycontin fußt hauptsächlich auf der Umdeutung von Schmerzen als Symptom einer Krankheit zur Krankheit selber. Das Mittel soll nicht nur bei Krebs im Endstadium verabreicht werden, sondern auch bei banalen Rückenschmerzen. Damit sind nun 50 Millionen Menschen schmerzkrank und können dank Oxycontin von ihren Leiden erlöst werden. Bald schon gibt es erste Todesfälle und die Methoden, mit denen Purdue Pharma gegen Journalisten, die den Skandal und die Lügen über das vermeintliche Unwissen des Konzerns über das wahre Suchtpotenzial des Mittels aufdecken, sind an Skrupellosigkeit kaum zu überbieten. Dabei hat man sehr genaue Zahlen über die Verschreibung des Mittels und schaut tatenlos zu, wie aus vielen Arztpraxen regelrechte Pillenbörsen mit Opioiden werden. Die Verschreibung von Oxycontin, das mittlerweile sogar einen Straßennamen, „Purple Peeler“, hat, ist für eine entsprechend skrupellose Ärzteschaft einfach zu lukrativ. Peeler heißen die Pillen, weil man die wirkstoffhemmende Beschichtung der Pille einfach abschälen kann, um dann ungehemmt die volle Dröhnung zu bekommen. Gerne wird der Wirkstoff auch in Wasser aufgekocht und wie gutes altes Heroin gespritzt. Kurz: Die Sacklers waren so etwas wie der Pablo Escobar des 21. Jahrhunderts. Keefes Buch liest sich wie ein Sittengemäldes des weltweiten Pharma-Kapitalismus und gibt dazu noch einen Einblick in die US-Medizingeschichte. Unbedingt lesenswert.Placeholder infobox-1