Schlimmer geht immer

Literatur Kann das gut ausgehen? Unser Autor saß bei „Der Bruch“ bis zum Schluss auf glühenden Kohlen
Ausgabe 16/2021
„Meine Familie ist voll abgefuckt.“ – „Alle Familien sind abgefuckt.“
„Meine Familie ist voll abgefuckt.“ – „Alle Familien sind abgefuckt.“

Foto: Matt Cardy/Getty Images

Auch in der Kriminalliteratur fristet der gemeine Einbruch eher ein Schattendasein. Das große Kapitalverbrechen ist, anders als die tatsächlichen Kriminalstatistiken das hergeben, in literarischer Verdichtung eher überrepräsentiert, genauso überrepräsentiert wie der Mord in den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, wo mittlerweile nahezu täglich gemeuchelt wird und das natürlich immer schön an der gesellschaftlichen Relevanz vorbei, wie etwa am „Phänomen“ Femizid.

Umso erfrischender ist es, zu Beginn des hart gesottenen Kriminalromans Der Bruch von Doug Johnstone einmal von Einbrechern auf einen nächtlichen Streifzug mitgenommen zu werden. Dabei sind wir immer ganz nah dran am jüngsten (und körperlich kleinsten) von ihnen, dem 17-jährigen Tyler Wallace, der von seinem älteren Halbbruder Barry zu den Raubzügen gezwungen wird, eben wegen jener geringen Körpergröße, die ihn befähigt, über sehr kleine Öffnungen in die Häuser einzusteigen. Kelly, die ebenfalls ältere Halbschwester, macht das zusehends desolate Trio komplett.

Sie alle sind die Kinder von Angela, einer in ihrer verzweifelten Heroin- und Alkoholsucht mit der damit einhergehenden allgemeinen Agonie vielleicht etwas zu dekorativ heruntergekommen gezeichneten Singlemom. Sie schläft zu Hause, in einem Wohnsilo des sozialen Wohnungsbaus Edinburghs, einen der Räusche vor dem nächsten Absturz aus, im Zimmer daneben die siebenjährige Bethany, die zu beschützen sich der schon zu Beginn der Geschichte überforderte Tyler fest vorgenommen hat.

Jetzt, in dieser ersten Nacht der Geschichte, sitzt Tyler jedoch einmal mehr mit seinen Halbgeschwistern in einem grauen (schön unauffälligen) Škoda und fährt durch die Viertel der Bessergestellten Edinburghs. Nicht zu schnell, nicht zu langsam, mit geübten Augen nach Überwachungskameras Ausschau haltend, die Lichtverhältnisse und Fluchtwege immer im Blick. Die Ausführlichkeit dieser Schilderung bis hin zur sorgfältigen Protokollierung der darauf folgenden Einbrüche vermag den moralischen Kompass wenigstens von Teilen der Leserschaft durchaus bis zur Unzuverlässigkeit ausschlagen lassen. Ich jedenfalls freute mich über jedes wertvolle Fundstück, das da in die von den Opfern ebenfalls unfreiwillig zur Verfügung gestellten Bettlaken wanderte. Doch der subversiv-wohlige Schauer verfliegt bald. Es kommt, wie es kommen muss. Tatsächlich wäre man besser beraten gewesen, sich etwas genauer über die Bewohner der letzten, besonders prunkvollen Villa zu informieren. Und dass der unter Koks stehende Barry die überraschend auftretende Hausherrin hinterrücks mit einem Messer attackiert, macht die Sache auch nicht besser.

Von nun an türmen sich die Probleme für Tyler auf, aus dessen Sicht wir das alles erleben. Durch die Verantwortung für seine kleine Schwester und die höchst toxische Verwandtschaft schon um seine Kindheit betrogen, geht es nun plötzlich rasend schnell um Leben und Tod, findet er sich im Mahlstrom der Gesetze, dem staatlich legitimierten und dem der Straße, wieder. Ohne Atempause muss aus dem zwar aufgeweckten, aber in diesem Milieu in nahezu allen Aspekten benachteiligten Jungen ein Mann werden – mit allen schmerzhaften Konsequenzen.

Tief in Lokalkolorit getaucht

Wie Doug Johnstone diese Zuspitzung unbarmherzig vorantreibt, ist schlicht mitreißend. Mit immer einer neuen, noch verderblicheren Volte der Erzählung und einem Tyler, der uns mit jedem Fehler, den er macht, noch stärker ans Herz wächst. Ich habe selten beim Lesen eines Buches laut „Oh nein!“ ausrufen müssen. Vielleicht zuletzt als Teenager. Es kann sein, dass ich mich mittlerweile wieder dahin zurückentwickle, aber wenn Tyler mit einer Klarheit, die nur ein sehr, sehr junger Mensch (oder aber ein sehr, sehr altes Kind) haben kann, den womöglich einzigen Weg aus dem Schlamassel ausschlägt, ist das schon sehr aufwühlend. Genauso wie die Fürsorge zu seiner Schwester, die er versucht, zwischen all den dampfenden Kackhaufen, die sich vor ihm (mitunter buchstäblich) auftun, hindurch zu lotsen. Die von Johnstone eindringlich beschriebenen Verhältnisse sind dabei so kaputt, dass selbst der Besuch in einer Starbucks-Filiale einem vorkommt wie der Aufenthalt in der Lobby eines Luxushotels.

Tyler schlägt die helfende Hand der Staatsmacht konsequent aus, sorgt sich weiter um seine Schwester und verliebt sich zu allem Überfluss noch in Flick, ein 17-jähriges Mädchen aus gutem Haus, dass von den Eltern in einem Internat geparkt wurde. Johnstone vermag es, da plötzlich ganz zarte Töne anzureißen. Bevor man sich näher kommen kann, müssen aber natürlich zuerst die Hürden der Klassenverhältnisse, wenn nicht zur Seite, so doch wenigstens ins Bewusstsein gerückt werden. Dabei stellt man dann fest, dass sowohl im kleinkriminellen Prekariat als auch im wohlstandsverwahrlosten Mittelstand (in Flicks Fall Humankapital des militärisch-industriellen Komplexes) Platz ist für Dysfunktionalität und Drogenmissbrauch.

„Meine Familie ist voll abgefuckt.“

„Alle Familien sind abgefuckt.“

„Nicht wie meine.“

„Jede ist auf ihre eigene Art abgefuckt.“

Heutiger Tolstoi. Aus dem Munde von Figuren, die noch nicht mal wissen, dass es Tolstoi überhaupt gegeben hat. Doch die Schraube dreht sich schnell weiter. Der Ton ist dabei so rau und illusionslos, dass ganz und gar ungewiss bleibt, ob diese Geschichte gut ausgehen wird, ob sie überhaupt gut ausgehen kann. Wenn das wenige Seiten vor dem Ende beim besten Willen nicht absehbar ist, man noch immer auf Nadeln sitzt, ist das schlichtweg gute Literatur. Nicht umsonst war Johnstone mit Breakers – so der englische Titel – 2019 für den besten schottischen Kriminalroman nominiert.

Das macht einfach Spaß zu lesen und ist dabei so tief in Lokalkolorit getaucht, dass man den Text auch als Reiseführer für Edinburgh gebrauchen könnte, mindestens um zu erfahren, wo man sich nächtens besser nicht aufhalten sollte, und um den Weg zum über der Stadt thronenden Edinburgh Castle zu finden.

Info

Der Bruch Doug Johnstone Jürgen Bürger (Übers.), mit einem Nachwort von Hanspeter Eggenberger, Polar Verlag 2021, 231 S., 20 €

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