Gleich drei neue Bücher von Till Raether gab es in diesem Jahr. Einen Berlin-Roman, einen Bestseller über seine Depressionen und einen neuen Danowski-Krimi. Es ist der sechste in der Reihe seit 2014, aber einer, der aus der Reihe tanzt.
Hausbruch (Rowohlt) ist anders als die Masse der Kriminalromane, die verlässlich wie die Gezeiten die Großbuchhandlungen fluten. Weicher vielleicht, präziser erzählt und von einer emotionalen Tiefe, die weniger wuchtig als scharfkantig ist. Dafür ohne eine Ermittlung und mit einem Ermittler, der es müde geworden ist, noch irgendetwas herauszufinden. Außer vielleicht über sich selbst. Deshalb ist er in einer Klinik an einem angemessen absurden Ort namens Damp 2000. Und als dort eine Frau sich nicht anders zu wehren weiß gegen den Mann, der vorgibt sie zu lieben, aber ihr immer nur wehtut, als ihn aus der Welt zu schaffen, da entscheidet Danowski sich, Mensch zu sein und nicht Polizist. Noch mehr als sonst. Hausbruch ist auch anders als die vorherigen fünf Danowski-Krimis. Diese Kursänderung passt zu dem fast schon programmatischen Text, den Raether im Frühjahr 2021 für den Literaturblog 54 Books geschrieben hat. Hier stellt er auch die Frage, wie man andere Polizeikrimis schreiben kann, um nicht länger „ein System zu reproduzieren und zu affirmieren, das in sich reformbedürftig und bis zur Reform schädlich für alle Beteiligten ist“.
der Freitag: Till, dein Essay „Die Verantwortung der Krimi-AutorInnen: Einige Forderungen an ein obrigkeitshöriges Genre“ hat viel Aufmerksamkeit generiert. Wie kam es überhaupt dazu, dass du diesen Text geschrieben hast?
Till Raether: Im Frühjahr war ich zu einer Tagung der Uni Bonn zur Kriminalerzählung der Gegenwart eingeladen, um dort einen Vortrag übers Krimischreiben zu halten. Ich habe beschlossen, mich mit der Frage auseinanderzusetzen, was für eine Verantwortung ich eigentlich als Krimiautor habe. Denn Mitveranstalterin war Sandra Beck von der Universität Mannheim, die letztes Jahr auch auf 54 Books über die Parallelität von dokumentarischen Bildern von Polizeigewalt im Fernsehen und die vergleichbare Ästhetik von vor allem US-TV-Serien geschrieben hatte. Sie zeigt in diesem Text, dass diese Kriminalerzählungen immer auch wie eine Empathieschule der Polizei wirken. Das hat mich nachhaltig beschäftigt: der Verdacht, dass meine Krimis bisher nicht so kritisch waren, wie ich es vielleicht gern hätte.
In den USA spricht man in diesem Zusammenhang auch von dem Begriff „Copaganda“, magst du den kurz erläutern?
Der Begriff kam bei der Diskussion um die Sitcom Brooklyn Nine-Nine immer wieder hoch. Die Idee der Serie: ein Polizeirevier als das Zuhause einer Angestelltenfamilie zu zeigen, mit allen Macken und Konflikten, aber letztlich sind doch alle liebenswert. Die Serie wurde einerseits immer sehr gelobt – sie ist divers besetzt, die Figuren sind gegen Klischees gebürstet –, aber andererseits betreibt sie eben Copaganda, also macht Werbung für die Agenda von Polizisten. Der Zuschauer oder Leser kommt so nah an die Ermittlerfiguren ran, dass sie eingeladen werden, alles aus der Sicht des Ermittlers zu sehen. Dadurch schwindet die Distanz zu einer staatlichen Institution, die, um es ganz vorsichtig auszudrücken, auf alle Fälle reformbedürftig ist.
Gilt das speziell für die amerikanische Polizei? Nach dem Tod von George Floyd kam es unter dem Slogan „defund the police“ ja zu Forderungen, der Polizei die finanziellen Mittel zu streichen ...
Du musst nicht in die USA schauen, um Polizeigewalt zu erleben, ob in echt oder medial. Für mich ist auch die deutsche Polizei dringend reformbedürftig. Dass die Studie über Rassismus und Racial Profiling (der Freitag 36/2020, Anm. d. Redaktion) bei der Polizei vom Innenministerium nicht weitergeführt wurde, spricht ja auch schon für sich. Ich finde, wir haben auch hier in Hamburg ein Schlaglicht darauf gehabt in der Zeit des G20 im Sommer 2017, wo es zunächst die große Erzählung von den Hunderten verletzten Polizisten gab, wobei sich am Ende herausstellte, die meisten waren dehydriert. Dazu kam dann noch Olaf Scholz mit seiner absurden Behauptung, es hätte keine Polizeigewalt gegeben.
Zur Person
Till Raether stammt aus Berlin, lebt aber seit 1999 in Hamburg. Er ist Journalist, Sachbuchautor, Schriftsteller. Seit 2014 sind sechs Kriminalromane um den hypersensiblen Polizisten Adam Danowski entstanden, Blutapfel wurde 2019 fürs ZDF verfilmt, die Rolle des Danowski spielte Milan Peschel
Welche Schlüsse ziehst du als Autor von Kriminalromanen daraus?
Der Krimi, vor allem der anspruchsvollere Krimi, gibt sich immer ein bisschen den Anschein, ein Underdog-Genre zu sein, wo viele Dinge erlaubt sind. Man erzählt aus der Sicht der gebrochenen Ermittler, man beleuchtet die Schattenseiten der Gesellschaft. Aber wenn das wie allzu oft vor allem aus der Perspektive von Polizisten erzählt wird, stellt sich doch die Frage, ob die Strukturen nicht eher bestätigt als infrage gestellt werden.
Aber der moderne Polizist ist, spätestens seit Clint Eastwood und „Dirty Harry“, ja immer auch eine Art Anarchist, der innerhalb des Systems längst nicht mehr funktioniert. Ist das nicht schon immanente Systemkritik?
Ja, aber das ist natürlich wahnsinnig zwiespältig. Der Polizist, der sich in der G20-Situation nicht anders zu helfen weiß, als auf Leute am Straßenrand zu knüppeln, begreift sich in diesem Moment vielleicht auch als Rebell. Vielleicht auch der Cop in den USA, der sofort schießt und womöglich überzeugt ist, von einem scheiternden System zu einem solchen Verhalten gezwungen zu werden.
Inwiefern trifft das auf deinen Kommissar Adam Danowski zu, der ja ziemlich unverdächtig ist, ein Fascho-Rowdy mit Polizeimarke zu sein?
Selbst bei Danowski hast du immer wieder das Phänomen, dass er sich auch als jemand empfindet, der innerhalb des Systems nicht funktioniert und es infrage stellt. Das führt auf der Handlungsebene dazu, dass er sich als Polizist nicht korrekt verhält, sich über Vorschriften hinwegsetzt und psychologische oder sogar körperliche Gewalt einsetzt. Natürlich versuche ich als Autor so, die Gebrochenheit der Figur deutlich zu machen und die Grenzen des Systems aufzuzeigen. Aber ich schreibe diese Ausweglosigkeit nur fort, wenn ich meine Figur auf ein fehlerhaftes System so reagieren lasse, dass er Vorschriften, die Menschen wie dich und mich ja schützen sollen, überschreitet. So einen Polizisten wünsche ich mir nicht, wenn ich mal einen brauche.
Du hast Danowski aber schon als Identifikationsfigur für den Leser angelegt, oder?
Ja, er ist ja nicht Vic Mackey aus The Shield, der in immer tiefere Abgründe abtaucht. Er ist verletzlich und melancholisch, und es ist ja super gängig, so jemanden als Identifikationsfigur anzubieten.
Wenn du schon „The Shield“ erwähnst, eine hochgelobte TV-Serie aus den nuller Jahren, die eine Gruppe von Cops als kriminelle Organisation zeigt: Ist sie nicht das ideale Vehikel, um uns nachhaltig verstehen zu lassen, wie kaputt das System wirklich ist?
In Serien wie The Shield, die ich wegen ihrer Ehrlichkeit sehr mochte, und in gelungenen Kriminalromanen hast du die Bestandsaufnahme eines gescheiteren Systems, das stimmt schon. Aber der Unterhaltungs- oder Genusscharakter entsteht ja wiederum aus dem Scheitern, aus der Kaputtheit des Systems, die immer wieder neu durchdekliniert wird. Das kann sehr zwiespältig sein.
Fehlt dir ein utopischer Impetus im Kriminalroman?
Das frage ich mich aktuell tatsächlich. Und auch wenn das jetzt etwas größenwahnsinnig klingen mag, das ist ein bisschen mein Projekt für die nächsten fünf Danowski-Bände. Ich will ausprobieren, ob man zeigen kann, wie ein Polizist sich immer weiter von der Polizei entfernt, ohne das nur als Geschichte einer persönlichen Deformation zu begreifen. Ob ich das tatsächlich als eine Art utopischen Text schreiben kann, weiß ich nicht. Bislang habe ich noch keine Lösung vor Augen, nur ein noch etwas vages Bild.
Hat diese neue Richtung etwas damit zu tun, dass die Opfer-Perspektive in „Hausbruch“ sehr viel Platz einnimmt?
Ich habe die Danowski-Bücher immer schon aus verschiedenen Perspektiven erzählt, aber das Problem ist oft, dass die Ermittler ganz nah an uns herangerückt werden, die Verbrechen und die Opfer aber nicht. Meine bisherigen Geschichten spielten im Bereich der Bandenkriminalität, es ging um Geheimdienste und Wirtschaftsverschwörungen. Das war lange ein wenig überdimensioniert, larger than life. Deshalb habe ich damit angefangen, den Verbrechen ein wenig von ihrem Glamour zu nehmen, sie an den Alltag heranzurücken. Es gibt kein häufigeres und alltäglicheres Verbrechen als häusliche Gewalt.
Auch bei häuslicher Gewalt kannst du das Dilemma haben, dass die Schilderung davon eine Art Genusscharakter bekommt. Bleibst du deshalb in diesen Szenen so vage?
Genau das war die Herausforderung: Gewalt zu schildern, ohne dass die Schilderung zum Nervenkitzel wird. Mir war klar, ich würde die explizite Gewalt nicht beschreiben. Das Eindrückliche ist ja nicht die Beschreibung der Gewalt, sondern die Tatsache, dass sie überhaupt stattgefunden hat, und die Gefühle von Ausweglosigkeit, die das nach sich zieht. Etwas vage zu erzählen führt den Leser idealerweise zu der Frage, ob wirklich das vorgefallen ist, was er sich vorstellt. Und genau das entspricht der Selbstwahrnehmung von Gewaltopfern, die sich oft fragen, was eigentlich passiert ist und ob es wirklich so schlimm war. Die normalen Abwehrmechanismen.
Diese Szenen spielen in Hausbruch, einem Vorort von Hamburg. Auch ein Teil der Strategie, die Verbrechen und Opfer näher an die Lebenswelt des Lesers zu bringen?
Ich fand es gerade spannend, dass dieses Milieu eher ein Nicht-Milieu ist, und genau da von außen reinzuschauen, wo es erst einmal gar nicht interessant zu sein scheint. Wenn du durch Hausbruch läufst, schweifen deine Gedanken schnell ab, weil es hier zwischen drei Generationen von Neubauten nichts gibt, das deinen Blick gefangen hält. Für mich ist das ein schöner Kontrast zu den Schauplätzen früherer Bücher, zu Kreuzfahrtschiff, Windkraftanlage in Fallwind oder Elbtunnel wie in Blutapfel zum Beispiel.
Danowski will raus aus der Polizei, schafft es aber nicht. Wäre der klassische Krimi-Move nicht gewesen, dass er aussteigt und zum Beispiel Privatdetektiv wird?
Stimmt schon, aber ich finde es interessanter, ihn zu der Auseinandersetzung mit den Strukturen zu zwingen und ihm ebendiese Fluchtmöglichkeit gerade nicht zu geben. Die Figur Danowski lebt auch davon, dass sie unter dem Druck dieser Institutionen steht, als Privatdetektiv kann ich ihn mir nicht vorstellen. Ich finde es interessant, dass sich der Kriminalroman vom Detektivroman zum Polizeiroman gewandelt hat. Denn der eigentliche Anarchist ist nicht der Polizist, sondern der Privatdetektiv. Er schafft zwar scheinbar Ordnung, auch narrative Ordnung, aber eigentlich stellt er alles infrage – er misstraut den Aussagen der Zeugen ebenso wie der Obrigkeit. Mir fallen hierzulande im ernst zu nehmenden Kriminalroman eigentlich keine Privatermittler mehr ein, auch im Fernsehen nicht. In Deutschland haben wir einen totalen Polizeifetisch.
Deine Chance, Till.
Ich liebe ja die Siebziger-Serie Detektiv Rockford mit James Garner, eine solche Figur für deutsche Verhältnisse zu schaffen, das wäre wirklich eine reizvolle Aufgabe. Tatsächlich hatte ich, als ich angefangen habe, Romane zu schreiben, die Idee für eine Art weiblichen Rockford, mein Agent überzeugte mich aber, dass ein Polizist erfolgversprechender ist. Vor allem ein Polizist mit einer psychologischen Deformation, die ihn von anderen unterscheidet.
Warum müssen Polizisten in Romanen und Filmen immer so kaputt sein?
Vielleicht weil es großen Spaß macht, über solche Figuren zu schreiben? Und weil es einfacher ist, als einen gesunden, rationalen Charakter spannend zu erzählen. Aber es gibt ja auch Gegenbeispiele: Hoke Moseley zum Beispiel, den stoischen Polizisten in den Romanen von Charles Willeford, die ich immer wieder lese. Martin Beck, den Ermittler bei Sjöwall/Wahlöö, oder Simenons Maigret. Und natürlich Rockford.
Die Deformationen sind oft auch der Grund, warum Polizisten sich so in ihre Fälle verbeißen, oder?
Stimmt. Danowski macht sich in Hausbruch Gedanken darüber, was bleibt, wenn er nicht mehr Polizist ist. Für Ermittler wie ihn ist das Wichtigste am Job der Halt, der dadurch entsteht, dass man für die Dauer einer Ermittlung die Illusion hat, Ordnung ins Chaos zu bringen, Sinn zu stiften, wo eigentlich keiner ist. Ich habe eigentlich eine Hassliebe zum traurigen Ermittler, der mit jedem neuen Fall seine melancholische Weltsicht bestätigt sieht. Weil er immer aufs Neue erlebt, wie grausam die Menschen sind, wie schlecht die Welt ist, gibt ihm das die Lizenz zum Sich-weiter-scheiße-Fühlen. Zu viel Selbstmitleid stört irgendwann nur noch.
In „Hausbruch“ verzichtest du auf Ermittlungsarbeit, die viele Leser bei einem Krimi erwarten, der Fall soll nicht aufgeklärt, sondern vertuscht werden. Außerdem ist der Roman deutlich kürzer als deine früheren. Gehen deine Leser diesen Weg mit?
Bei Amazon habe ich kürzlich gesehen, dass das Buch nur zwei oder drei Sterne hat. Eine Frau hat geschrieben: „Das ist kein Krimi mehr.“ Und sie hat zum Teil recht: Es ist kein Whodunit, kein 500-Seiten-Klopper mit spektakulären Verbrechen. Also: mal sehen.
Du bist mit „Hausbruch“ ganz schön ins Risiko gegangen, oder, Till?
Das wird mir gerade klar, Marcus.
Raether und der Autor kennen sich aus diversen Kneipen auf und um St. Pauli
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