South Boston, Sommer 1974: Jean-Louis Andre Yvon versucht dem weißen Mob zu entkommen, der ihn gerade aus seinem Auto gezogen hat
Fotos: John Blanding/the Boston Globe/Getty Images, Spencer Grant/Getty Images (Hintergrund), Gaby Gerster/Diogenes (Portrait)
Für seine Fans ist es eine der besten Nachrichten dieses Literatursommers: Es gibt nach sechs Jahren Pause einen neuen Roman von Dennis Lehane, und vielleicht hat er nie einen besseren geschrieben. Die schlechte Nachricht: Sekunden der Gnade, gerade auf Deutsch bei Diogenens erschienen, könnte auch sein letzter sein.
Wir erreichen Dennis Lehane via Zoom in Los Angeles, wo der Mann, dessen Romane düstere Liebeserklärungen an seine Heimatstadt Boston sind, seit zehn Jahren lebt. Es ist Mittag in Kalifornien, und Lehane – hohe Stirn, dezenter Kinnbart – wirkt extrem entspannt. Dabei läuft es gerade alles andere als optimal für ihn. Eigentlich sollte der 58-Jährige schon seit drei Monaten in Vancouver sein, wo die Dreharbeiten zu seiner neuen TV-Se
seiner neuen TV-Serie, die auf dem gefeierten True-Crime-Podcast Firebug basiert, stattfinden sollten. Doch dann kam der Streik der Drehbuchautoren und inzwischen auch der Schauspieler dazwischen. Lehane ist überzeugt davon, dass dieser Streik mehr als berechtigt ist, aber er hat jetzt halt verdammt wenig zu tun, was ihm so gar nicht passt. „Ich kann Urlaub nicht leiden und werde auch nie in den Ruhestand gehen“, sagt Lehane. „Ich liebe es einfach, zu arbeiten.“Dann wäre doch der Streik eigentlich die ideale Voraussetzung, um an einem neuen Roman zu schreiben? „Der Streik dauert jetzt schon Monate, und ich habe keine Zeile geschrieben. Was sagt Ihnen das?“, sagt Lehane mit hintergründigem Lächeln.Früher einmal, da wäre es ihm leichter gefallen, sagt er. Vor 29 Jahren erschien mit A Drink before the War (deutsch: Ein letzter Drink) sein erster Roman, und für die erste Fassung habe er gerade mal dreieinhalb Wochen gebraucht. „Ich hatte zuvor nur Kurzgeschichten geschrieben. Doch eines Tages, ich war ziemlich pleite damals mit Mitte zwanzig und konnte nicht ausgehen, las ich einen Kriminalroman. Über den habe ich mich so geärgert, dass ich beschloss: Das kannst du besser.“ Ganz so schnell ging es dann doch nicht: Neun Fassungen und ein paar Jahre später erschien der Roman mit dem „Arbeiterklasse-Detektiv-Duo“ Angela Gennaro und Patrick Kenzie. Es war der Auftakt zu einer zunächst fünfteiligen Reihe, die Lehane zu einem der profiliertesten jungen US-Krimiautoren machte. Lehane schaffte es, das richtige Leben abzubilden, ohne realistisch sein zu wollen. Dorchester, wo Lehane aufgewachsen ist, und South Boston, kurz: Southie, die beiden Bostoner Viertel, in denen die meisten seiner Bücher spielen, werden zu Schauplätzen furchtbarer Gewalttaten, aber eigentlich stehen nicht Verbrechen und Aufklärung im Mittelpunkt seiner Romane, sondern Ursache und Wirkung von Gewalt. Seine Figuren und das Milieu, in dem sie agieren, haben ihn immer mehr interessiert als der Plot.Dennis Lehane revolutionierte in den 90ern das Krimi-GenreDiese Art, sich dem Genre zu nähern, Geschichten zu erzählen, die den Lesern etwas über die Welt vermitteln, in der wir leben, die zeigen, was alles schieflaufen kann, und uns verstehen lassen, was Gier, Gewalt und Gleichgültigkeit anrichten, und das gerahmt von präziser Stadterkundung, war im Krimi der frühen Neunziger nicht sehr weit verbreitet. Fast gleichzeitig mit Lehane begannen in anderen US-Städten andere Autorinnen und Autoren ähnliche Romane zu schreiben – George Pelecanos in Washington, Laura Lippman in Baltimore, Walter Moseley und Michael Connelly in Los Angeles, um nur einige zu nennen, in Edinburgh auch Ian Rankin. Und so wurden die Neunziger zu einem neuen goldenen Zeitalter des Kriminalromans. Lehane ist sich dessen bewusst. „Wir waren alle enttäuscht davon, wie sich der Kriminalroman entwickelt hatte. Und es braucht dieses Gefühl der Unzufriedenheit, um Neues anzustoßen. So sind schließlich auch Punk, Grunge oder das großartige Kino der Siebzigerjahre entstanden.“Lehane macht sich Sorgen, dass es Romane wie seine oder Pelecanos‘ bald nicht mehr geben könnte. „Wo sind denn die jungen Talente? Die machen alle irgendeinen Scheiß auf Tiktok oder Snapchat. Das sehe ich auch an meinen eigenen Töchtern. Sie sind in einem Haushalt voller Bücher aufgewachsen, sind smart und vielseitig interessiert, aber Lesen: Fehlanzeige!“Wahrscheinlich würde Lehane auch niemandem dringend raten, sich auf seine Spuren zu begeben. Schließlich schreibt er inzwischen mehr Drehbücher als Romane. „Vor etwa 15 Jahren haben George Pelecanos und ich uns zusammengesetzt und darüber geredet, dass wir diversifizieren müssen, um zu überleben.“ Eigentlich unvorstellbar bei einem Autor wie Lehane, der mit Gone Baby Gone, Mystic River und Shutter Island drei Romane in seiner Vita hat, die erfolgreich verfilmt wurden, von Ben Affleck, Clint Eastwood und Martin Scorsese.Seine Kindheit endet abruptDiversifizieren, das hieß für Lehane, Pelecanos und einige andere: Fernsehen. Seitdem Lehane 2004 seine erste Folge für David Simons legendäre Serie The Wire geschrieben hatte, rissen die Aufträge für Drehbücher nicht mehr ab. Mehrere Stephen-King-Adaptionen hat er seitdem geschrieben, inzwischen hat er einen Exklusivvertrag mit Apple+. Black Bird, seine erste Miniserie über die intime Beziehung zweier Gefängnisinsassen für den Streamingdienst, gehörte zum Besten, das 2022 auf den globalen Streamingportalen zu sehen war. Und wenn der Streik einmal vorbei sein wird, steht für Lehane die Serienadaption seines neuen Romans Sekunden der Gnade an.Es ist ein Roman, der schon lange in Lehane schlummerte. „Als ich neun Jahre alt war, endete meine Kindheit“, sagt er. Es war am Ende des Sommers 1974, als Lehane mit seinem Vater in Southie in eine Protestaktion geriet. Damals, so der Plan der Stadt, der nicht aufging, sollten schwarze Kinder in weiße Schulen gehen und andersherum, der Transport zwischen den Stadtteilen wurde mit Bussen organisiert. „Weiße Menschen schmissen mit Steinen auf Busse voller schwarzer Kinder“, sagt Lehane. „Wer so etwas mitbekommt, der verliert sein Vertrauen in Erwachsene.“Die explosive Stimmung in der Stadt, vor allem in Southie, damals fast 100 Prozent irisch-weiß, grundiert die Geschichte von Mary Pat Fennessy. Weiß, geschieden, harte Trinkerin und Raucherin, die in zwei Jobs arbeitet, um sich und ihre 17-jährige Tochter Jules mehr schlecht als recht durchzubringen. Als Jules eines Tages verschwindet – in derselben Nacht, in der ein schwarzer Junge in einer U-Bahn-Station zu Tode gehetzt wird –, fängt Mary Pat an zu suchen. Wie Kleists unbeirrbarer Michael Kohlhaas ist sie durch nichts von ihrer Fehde abzubringen, und das Motto des Pferdehändlers könnte auch das ihre sein: „Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrunde!“Du sprichst nicht darüberMary Pats Welt, das ist Southie, und sie rüttelt an den Grundfesten dieser Welt. Sie wird lernen, dass die im Viertel behauptete Solidarität und Loyalität nur eine Illusion ist, und aus der Suche wird eine Fehde. Unter anderem kommt sie den krummen Geschäften der Gang von Marty Butler in die Quere – eine Figur, die Lehane nach dem berüchtigten Verbrecher Whitey Bulger modelliert hat. „South Boston wurde damals von Bulgers Winter Hill Gang dominiert“, erklärt Lehane. „Und sein Narrativ war: Ich beschütze die meinen und verhindere, dass die Drogen ins Viertel kommen. Erst später wurde bekannt, dass er es war, der das Heroin nach Southie brachte, das eine ganze Generation zu Suchtsklaven gemacht hat. Der Robin Hood-Mythos um Bulger war nur Schwachsinn.“Mary Pat in ihrem gerechten Zorn wird zur Zielscheibe der Gangster. Doch sie ist auch eine typische Lehane-Figur: zäh, tough, eine Kämpferin, die sich zu wehren weiß. „Ich bin mit Frauen wie Mary Pat aufgewachsen, und deshalb gibt es in meinen Romanen auch nie diese Klischeefrauen, die einen Mann brauchen, um ihren Weg zu finden“, so Lehane. Das wirklich Aufregende an der Figur der Mary Pat aber ist ihre Ambivalenz, sie ist alles andere als eine grundsympathische Heldin, auch wenn sie uns im Laufe des Romans immer mehr ans Herz wächst. Für Lehane steht sie für den allgegenwärtigen Hass und Rassismus, den er in seiner Kindheit kennenlernte und noch nie so offensiv verarbeitet hat wie in Sekunden der Gnade. „Rassismus ist wie ein extrem ansteckendes Virus. Eine Krankheit, die alles zerstört“, sagt Lehane. „Und South Boston war durch und durch rassistisch. Meine Freunde waren Rassisten, die Freunde meiner Eltern. Du sprichst irgendwann nicht mehr über das Thema, und ich habe lange nicht verstanden, wie mich das all die Jahre beeinträchtigt hat.“Vielleicht erklärt dieses lange unterdrückte Gefühl auch die Heftigkeit, mit der Lehane Sekunden der Gnade am Ende turboeskalieren lässt. Dieser Roman ist auch das Dokument einer Befreiung. Und vielleicht hat Lehane all die Jahre, ohne es zu wissen, auf dieses Buch hingeschrieben. Sollte es wirklich sein letztes bleiben, es wäre ein perfekter Abschluss.