Das letzte Haus links in einer Reihe von neun unspektakulären und heute in der Spätwintersonne weiß strahlenden Cottages. „Von hier aus ist Roddy aufgebrochen, um seine Morde zu begehen“, sagt Graeme Macrae Burnet. Hier, das ist die Mini-Siedlung Culduie, malerisch an der schottischen Westküste gelegen, von deren Existenz auch in Großbritannien kaum jemand etwas wüsste, so gut versteckt und schwer zu erreichen ist sie. Doch in letzter Zeit wird die Ruhe der Schafe und Wollschweine häufiger durch Fremde gestört. Die wollen sehen, wo Roderick Macrae drei Menschen abgeschlachtet hat, an einem Sommertag im Jahr 1869. Roddy, das war der 17-jährige Sohn eines Crofters, wie man die Bauern in Schottland früher nannte, die ein wenig Land pachteten und kaum je genug ernteten, um davon zu leben, geschweige denn die Pacht zahlen zu können. Roddys Erfinder, Graeme Macrae Burnet, das ist ein stattlicher Mann, von über 1,90 Metern, mit einem vom üppigen britischen Frühstück und dem ein oder anderen Pint Bier geformten Bauch und einer Stirntolle auf dem ansonsten fast kahlen Schädel, die an die Frisur des Reporters Tim aus den Tim-und-Struppi-Comics erinnert. Und auch wenn er nicht so aussehen mag, in seiner etwas schäbigen Jacke, von der seine Freundin vorher gesagt hatte, er solle sie besser nicht anziehen: Graeme Macrae Burnet, das ist die größte literarische Sensation, die Schottland in den letzten Jahren hervorgebracht hat.
Wahrscheinlich hätten wir in Deutschland bis heute nicht von Burnet gehört, wäre sein Roman His Bloody Project nicht im vergangenen Jahr zunächst für die Longlist und dann sogar für die Shortlist des Man Booker Prize nominiert gewesen, der neben dem Pulitzer wichtigste internationale Literaturpreis. „Es ist das erste Mal, dass ein schottischer Autor, dessen Roman bei einem schottischen Verlag erschienen ist, für den Preis nominiert war“, sagt Burnet. Contraband ist ein Kleinverlag, spezialisiert auf Kriminalromane, und die 1.200 Exemplare, die sie vor dem Beginn des Hypes verkauft hatten, waren durchaus im Rahmen. Inzwischen wurde Sein blutiges Projekt mehr als 120.000 Mal gekauft, und die internationalen Verlagshäuser wurden aufmerksam: „In ein paar Tagen fliege ich nach Australien, wo mein Buch gerade erschienen ist, ein paar Wochen später geht es nach Los Angeles.“ Für Deutschland sicherte sich der Europa-Verlag die Rechte – und organisierte auch den Dreitagestrip des Autors mit drei deutschen Journalisten. Burnet fungiert als Reiseleiter und führt uns an die Schauplätze seines Romans. Neben Culduie ist das vor allem Applecross, der nächste größere Ort, der nicht viel mehr Häuser zu bieten hat, aber mit dem Applecross Inn immerhin ein nettes Hotel samt Restaurant, sowie einen Souvenirladen, an dessen Eingangstür seit kurzem ein Plakat hängt: „His bloody local shop“.
Burnet ist kein junger Mann mehr, 50 wird er in diesem Jahr, und Sein blutiges Projekt ist erst sein zweiter Roman. Vor drei Jahren erschien sein Krimi-Debüt The Disappearance of Adèle Bedeau, die deutsche Übersetzung ist bereits in Arbeit. Einige gute Kritiken hat er dafür bekommen, rund 2.000 Stück verkauft, nichts, wovon man leben könnte. „Erst vor kurzem konnte ich meinen Job an den Nagel hängen, um Vollzeit zu schreiben“, erzählt Burnet. Er hat früher als Englischlehrer im europäischen Ausland gearbeitet, später als Rechercheur beim schottischen Fernsehen. Zuletzt hat er vor allem Malerarbeiten erledigt, aushilfsweise: „Wenn ich 800 Pfund zusammenhatte, konnte ich einen Monat lang schreiben.“ Als der Erfolg kam, hat er diesen letzten Teil seiner Biografie nicht in den Vordergrund gestellt: „Ich wollte nicht, dass irgendein Magazin auf die Idee kommt, mich für ein Fotoshooting in eine Malermontur zu stecken.“
Burnet will sich nicht als der kleine Malocher positionieren, der quasi aus Versehen zum Bestsellerautor geworden ist. Er hat immer schon geschrieben, und nur ein wenig länger gebraucht, bis er seinen eigenen Sound gefunden hat: „Früher, als Student, war ich ein großer Fan von Samuel Beckett. Ich habe ihn in meinen Kurzgeschichten imitiert. Und das nicht besonders gut.“ Ebenso wie James Kelman, einen schottischen Intellektuellen, der in Romanen wie Spät war es, so spät (Liebeskind, 2004) vor allem über die Glasgower Arbeiterklasse geschrieben hat, und dessen Werk Burnet bewundert. Burnet war auch immer an Theorie interessiert, an den Ideen von Roland Barthes oder Michel Foucault. Ist dessen weniger bekanntes Werk Der Fall Rivière so etwas wie die Blaupause für Sein blutiges Projekt? „Ich habe das Buch während des Studiums entdeckt, und es hat mich 30 Jahre lang nicht losgelassen“, so Burnet. „Es war eine Inspiration für mich, Blaupause geht aber zu weit. Sobald ich mit meinem Roman angefangen hatte, habe ich den Foucault nicht mehr zur Hand genommen. Es ist ein bisschen wie in der Musik: Wenn du mit deiner Band eine Coverversion einübst, solltest du das Original vergessen. Nur kopieren ist langweilig.“
Spiel mit Authentizität
Dennoch, die Parallelen sind unübersehbar: Foucaults Buch behandelt einen realen Fall aus dem Frankreich des 19. Jahrhunderts. Pierre Rivière, ein Bauernjunge, hatte seine Mutter und seine beiden Geschwister umgebracht und anschließend im Gefängnis ein Memoir verfasst. Auch Burnets Figur Roderick Macrae bringt drei Menschen um, allerdings nicht seine Familie, sondern unter anderem den Mann, der für die Durchsetzung der Interessen des Landbesitzers in Culduie zuständig ist und Rodericks Vater das Leben zur Hölle machte. Roderick stellt sich und schreibt in Untersuchungshaft sein Geständnis nieder. Diese Aufzeichnungen bilden das Zentrum des Romans, das gerahmt wird von Zeugenaussagen und einer Zusammenfassung des Prozesses, bei dem darüber entschieden wird, ob Roderick für seine Taten zur Rechenschaft gezogen oder für geistig unzurechnungsfähig erklärt werden soll.
Der Roman liest sich wie eine hoch literarische True-Crime-Geschichte, zumal Burnet im Vorwort behauptet, Roderick sei einer seiner Vorfahren, er sei auf dessen Geschichte gestoßen, als er im Archiv von Inverness etwas mehr über seinen Großvater Donald herausfinden wollte. Erst im Nachwort klärt Burnet auf, dass Sein blutiges Projekt Fiktion ist, auch wenn es einige Figuren des Romans tatsächlich gegeben hat. Dieses lustvolle Spiel mit vermeintlicher Authentizität macht Burnets Buch zu einem der bislang aufregendsten Kriminalromane des Jahres.
Sieht sich Burnet in der Tradition postmoderner Metafiktion? „Nein, ich sehe mich in der Tradition des Romanschreibens. Autoren haben schon immer mit Themen wie Authentizität gespielt. James Hoggs Confessions of a Justified Sinner zum Beispiel, ein schottischer Klassiker aus dem frühen 19. Jahrhundert, beginnt mit der Erzählung eines fiktiven Herausgebers. Auch Laurence Sternes Das Leben und die Meinungen des Tristam Shandy und Wilkie Collins’ Der Monddiamant sind frühe Beispiele für Metafiktion. Letztlich geht es beim Schreiben darum, aus dem prall gefüllten Werkzeugkasten, die für die Geschichte passenden Werkzeuge herauszusuchen.“
Burnet mag es, mit dem Format Roman zu spielen, gleichzeitig will er aber möglichst realistische Protagonisten kreieren: „Ja, ich will alles, eine interessante Struktur und faszinierende Figuren. Ich möchte, dass meine Leser echte Tränen weinen, wenn den Protagonisten etwas Schlimmes zustößt. So wie ich selbst manchmal beim Schreiben weine, weil ich meine Figuren so sehr mag.“ Der Kriminalroman wird aus mehreren Perspektiven erzählt, am Ende gibt es keine definitive Wahrheit, nur Versionen dessen, was tatsächlich geschehen sein mag. So entsteht ein schwindelerregender Taumel aus Deutungsmöglichkeiten. „Genau das war meine Absicht, jeder Leser soll sich seine eigene Meinung bilden. Dass es funktioniert, merke ich immer wieder bei Lesungen, wo viel darüber diskutiert wird, warum Roddy die Morde begangen hat und ob er sein Memoir vor allem geschrieben hat, um das Gericht dahingehend zu beeinflussen, ihn als geisteskrank freizusprechen. Ein bisschen ist der Roman wie ein Labyrinth. Ehrlich gesagt finde ich mich manchmal auch nicht mehr darin zurecht.“
Es gibt keinen neutralen Erzähler in Sein blutiges Projekt, niemanden, der die fiktiven Dokumente bewertet und einordnet, selbst das Vorwort ist Teil der Fiktion. „Als ich das Buch einmal in einer Schule präsentiert habe“, erzählt Burnet, „fragte einer der Schüler mich, ob ich mich hinter meinen Figuren verstecken würde. Ich hätte ihm vielleicht antworten können, dass es mir nicht darum geht, eine Botschaft an die Welt zu richten oder meine Gefühle mitzuteilen. Wer sollte sich dafür interessieren, was ich zu sagen habe?“
Sorgfältige Recherche
Dennoch: Das Buch ist weit mehr als ein spannender historischer Thriller mit metafiktionalen Mätzchen. Burnets Schilderung des harten Lebens der Crofter im 19. Jahrhundert berührt, auch weil der Leser spürt, dass hier ein Autor wirklich sorgfältig recherchiert hat. Hat er sich während der Recherche aufgeregt? „Natürlich, immer wieder. Die Crofter hatten keine Rechte, waren wie Eigentum des Landbesitzers und wurden wegen Kleinigkeiten streng bestraft, so etwas macht mich wütend. Aber das muss man beim Schreiben ignorieren, wer wütend ist, schreibt nicht gut.“
Burnet hat die Form des historischen Romans nicht gewählt, um der heutigen Zeit einen Spiegel vorzuhalten: „Wenn ich ein Buch über die Welt von heute schreiben wollte, würde es auch im Hier und Jetzt spielen. Ich lebe nicht in einem totalitären Staat und muss nicht die Form der Allegorie wählen, um etwas über die Gegenwart zu sagen. Ich finde es aber faszinierend, wenn mir Leute erzählen, dass sie meinen Roman zum Beispiel als Kommentar zum Thema Fake News gelesen haben, eben weil es darin keine definitive Wahrheit gibt. Oder der chinesische Journalist, den meine Geschichte an das China der Kulturrevolution erinnert hat. Aber noch einmal: Ich habe kein Sendungsbewusstsein und wollte mit meinem Buch auch nicht auf das Schicksal der Crofter aufmerksam machen. Was ich über die Zeit herausgefunden habe, diente mir vor allem dazu, die Motivation der Figuren herauszuarbeiten. Dass viele Menschen in Schottland erst durch meinen Roman von den unmenschlichen Lebensbedingungen der Crofter gehört haben, ist ein positiver Nebeneffekt, mehr nicht.“
Für Burnet steht bei einem Roman letztlich das Verhältnis von Leser und Text im Mittelpunkt: „Ich finde es erstaunlich, dass viele Kritiker, aber auch Leser den Text als Grundlage nehmen, um den Autor zu verstehen. Oder den Text als Kommunikation zwischen Autor und Leser begreifen. Wenn ich einen Roman lese, interessiere ich mich nicht für den Autor. Ich will kein Bier mit ihm trinken gehen und nichts über seine politischen Ansichten wissen. Zum Beispiel verehre ich Houellebecqs Art zu schreiben und lese ihn mit Vergnügen, auch wenn ich ihn als Menschen für eher schwierig halte.“
Das literarische Spiel, das Burnet in Sein blutiges Projekt perfektioniert hat, zeichnete auch schon sein erstes Buch The Disappearance of Adèle Bedeau aus. Im Nachwort „enthüllt“ er, dass es sich eigentlich um einen französischen Roman aus dem Jahr 1982 handele, den er nur übersetzt habe und der von einem gewissen Raymond Brunet stamme. Obwohl Adèle auf dem Cover eindeutig als Burnets Roman gekennzeichnet und das Anagramm Burnet/Brunet leicht zu entschlüsseln ist, führte das zu einiger Verwirrung: „Zum Beispiel gratulierte ein Londoner Buchhändler mir zu meiner Übersetzung. Als ich ihn aufklärte, war er ziemlich verärgert, schließlich hatte er das Buch unter falschen Voraussetzungen verkauft.“
Momentan schreibt Burnet an einer Fortsetzung von Adèle, was sich als gar nicht so einfach herausstellt, denn inzwischen ist er so etwas wie ein Gefangener seines Spiels mit der Fiktion: „Ich muss das Buch jetzt so schreiben, wie Brunet es schreiben würde, auch wenn ich inzwischen ein anderes Verhältnis zu meinen Figuren und dem Örtchen Saint-Louis habe, in dem es spielt. Als ich zum ersten Mal zu Recherchen dort war, war es Winter und ziemlich trostlos, als ich vergangenen Sommer wieder nach Saint-Louis kam, fand ich es total schön. Aber Brunet sieht das ganz anders.“
Am Ende unseres Besuchs an der schottischen Westküste möchte ich von Burnet noch wissen, ob seine Tim-Tolle so etwas wie sein Markenzeichen darstellt. „Sagen Sie ruhig, was Sie meinen: meine alberne Frisur“, sagt Burnet. „Aber die hatte ich schon, bevor ich zu schreiben begonnen habe. Also kein Markenzeichen. Was Erfolgsplanung angeht, bin ich sowieso nicht besonders aktiv. Natürlich wird jeder Autor, sobald er ein wenig Erfolg hat, zu einer Marke, auch wenn die meisten es nicht mögen. Anders als Verleger, die freuen sich, wenn ihre Autoren das Genre nicht wechseln. Oder ihre Frisur …“
Info
Sein blutiges Projekt: Der Fall Roderick Macrae Graeme Macrae Burnet Claudia Feldmann (Übers.)., Europa Verlag 2017, 344 S., 17,99 €
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