Willkommen in Willnot, einer Kleinstadt irgendwo im Nirgendwo der USA. Hier leben die Außenseiter und die Ausgestoßenen. Menschen, die nichts mehr zu tun haben wollen mit der Welt da draußen, mit Konzernen und Kriegen, mit Hass und Gewalt. Und doch können sie ihr nicht entkommen: Gleich zu Beginn des Romans wird ein Grab entdeckt, darin liegen mehrere Leichen. Das bedeutet eine Menge Aufregung für das beschauliche Städtchen. Eine FBI-Agentin taucht auf, ein sensationshungriger Reporter schnüffelt herum, zwei Scharfschützen liefern sich einen Shootout. Und irgendwann landen sie alle bei Lamar Hale, ortsansässiger Arzt und gutes Gewissen der Kleinstadt. Und Ich-Erzähler von James Sallis’ neuem Roman Willnot, der jetzt in einer hervorragenden Übersetzung von Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeldt vorliegt (Liebeskind 2019, 224 Seiten, 20 Euro).
Zur Person
James Sallis, Jahrgang 1944, gilt seit der Reihe um Privatdetektiv Lew Griffin als einer der wichtigsten lebenden Schriftsteller im Genre. Sein berühmtestes Buch ist Drive , es wurde mit Ryan Gosling erfolgreich verfilmt. Sallis lebt in Phoenix, Arizona
Wie in seinen früheren Romanen schert sich Sallis auch in Willnot kaum um die Konventionen des Genres. Ihm geht es nicht um oberflächliche Spannungskicks und Täterraterei, sondern darum, eine Welt zu entwerfen, die wir so noch nicht erlebt haben. Sallis tut das auf seine ganz eigene Weise, der Blick seines Helden Lamar Hale auf die Menschen von Willnot ist so wunderbar verschroben, als wäre er ein wohlmeinendes Alien.
Wer Willnot liest, wird hinterher kein besserer Mensch sein, aber er wird die Welt mit anderen Augen sehen.
der Freitag: Mr. Sallis, in Ihrem neuen Roman „Willnot“ wird am Anfang ein Grab gefunden, mit zerstückelten Leichen darin, später kommt es zu mehreren Schießereien. Aufgeklärt wird keiner der Fälle. Warum lassen Sie Ihre Leser bis zuletzt im Dunkeln?
James Sallis: Weil die Geheimnisse in unserem Leben größtenteils nicht lösbar sind. Interessant und wichtig ist hingegen, wie wir – als Individuen, aber auch als Gesellschaft – mit diesen Rätseln umgehen, den großen wie den kleinen. In meinen Büchern denke ich darüber nach, wie sich das Leben anfühlt, während wir es leben. Ich habe kein Interesse daran, etwas schön säuberlich zu verpacken.
Lamar Hale, die Hauptfigur in Ihrem Roman, ist Arzt und somit jemand, der im Krimi eher selten im Mittelpunkt steht. Wie kam es dazu?
Lamars Vater ist Schriftsteller, er selbst sollte einen Beruf haben, der sich so weit wie möglich von dem des Schriftstellers entfernt. Ein Autor schreibt in größtmöglicher Abgeschiedenheit, während ein Arzt immer unter Leuten ist, er lebt, um anderen Menschen zu helfen und wie Lamar seiner Gemeinde zu dienen. Ich habe selbst früher lange Jahre als Atemtherapeut gearbeitet und hatte es mit Patienten zu tun, die zum Beispiel nach einem Herzinfarkt in akuter Lebensgefahr waren.
Lamar ist so etwas wie die gute Seele der Kleinstadt Willnot, er kennt die meisten Einwohner, weiß auch um ihre dunklen Geheimnisse. Die Stadt wirkt wie ein Asyl für Menschen, die vor dem Leben oder ihrer eigenen Vergangenheit fliehen. Man versucht, den Schrecken einer Welt draußen zu halten, die von Profitsucht zerstört wird, was aber nicht immer gelingt. Ist Willnot so etwas wie eine gescheiterte Utopie?
Der utopische Gedanke stand am Anfang von meiner Idee für die Stadt Willnot. Im 19. Jahrhundert gründeten sich in den USA Dutzende von utopischen Kommunen, darunter die Amana Colonies im Bundesstaat Iowa, die kommunistische Oneida Community oder die sozialutopische Gemeinschaft Brook Farm. Ich habe darüber nachgedacht, wie eine solche Utopie heute aussähe. Mich hat die Idee interessiert, sich aus der Gesamtgesellschaft zurückzuziehen. Das ist US-amerikanischer Starrsinn auf die Spitze getrieben und erinnert an Bartlebys berühmten Ausspruch „Ich möchte lieber nicht“ aus Herman Melvilles Bartleby der Schreiber.
Mich hat die Stadt vor allem an eine TV-Serie aus den neunziger Jahren erinnert, „Ausgerechnet Alaska“, in der ein Arzt aus New York in der von zahllosen schrulligen Figuren bewohnten Kleinstadt Cicely sein Lebensglück findet. Willnot wirkt wie Cicelys düsterer Bruder. Kennen Sie die Serie?
Ich habe sie mit großem Vergnügen und voller Bewunderung gesehen, als sie damals lief, und muss mir wohl eingestehen, dass vieles in Willnot dieselben Wurzeln hat: die amerikanische Frontier, die immer etwas Besseres in der Ferne zu versprechen scheint und die in immer neuen Köpfen und Herzen und Städten weiterlebt. Ich empfinde Willnot aber weder als düster noch als gescheitert. Es ist eine Gemeinde, die trotz all ihrer Schwächen funktioniert.
Hatten Sie zuerst die Idee für die Stadt oder für Ihre Hauptfigur?
Typischerweise formen sich meine Kurzgeschichten und Romane, wenn sich Bilder und Ideen vermischen. In diesem Fall hatte ich das Bild von dem Leichenfund im Kopf, und Gedanken über die erwähnten utopischen Gemeinden rauschten durch mein Hirn. Und dann war da noch die Stimme, die mir einflüsterte, dass es interessant wäre, über jemanden zu schreiben, dessen Vater ein Bohemien war und der von seinem Sohn enttäuscht ist, als dieser sich für eine normale Karriere und gegen das Künstlerleben entscheidet. Für mich ist das ein amüsante Umkehrung, denn früher wollten die meisten Eltern, auch meine, dass ihre Söhne Arzt oder Ähnliches werden.
Die Menschen in Willnot sind alle beschädigt, „beautiful losers“, um Leonard Cohen zu zitieren. Warum ist das so?
Sind wir nicht alle beschädigt? Ist das nicht genau der Grund, dass wir Gemeinschaften aufbauen und Beziehungen eingehen und Geschichten schreiben?
Willnot ist ein sehr dichter Roman, fast ein Epos, aber auf nur gut 200 Seiten. Auch Ihre anderen Romane sind selten länger. Wie bekommen Sie das hin?
Ich denke auch, dass in meinen Romanen sehr viel mehr passiert als in anderen, zwei- oder dreimal so dicken Büchern. Das hat damit zu tun, dass ich viele Gedichte und Kurzgeschichten schreibe. Verdichtung – das Bild, den Rhythmus, die Worte zu finden, die ein Ereignis, eine Interaktion oder einen Geisteszustand auf den Punkt bringen – wird dabei zu einem Reflex.
In den USA ist „Willnot“ bereits 2016 erschienen, vor der US-Präsidentschaftswahl. Trotzdem liest es sich wie ein Kommentar auf die Welt nach Trump, der in vielen Menschen das Schlechteste zum Vorschein bringt. Sehen Sie „Willnot“ als politischen Kommentar?
Jeder Roman ist politisch. Und in Willnot mit seinem Thema der sozialen Utopien konzentriert sich viel auf die großen gesellschaftlichen Fragen: Sollen wir Teil der Gesellschaft sein oder uns zurückziehen – oder vielleicht versuchen, eine bessere zu schaffen? Theodore Sturgeon, einer meiner Lieblingsautoren, wandte sich einmal an den Herausgeber des Science-Fiction-Magazins Galaxy und sagte, dass er sich angesichts der realen Schrecken des McCarthyismus und des Kalten Krieges nicht in der Lage sehe, Geschichten zu erfinden, die sich damit auseinandersetzen. Gold antwortete, dass Sturgeon alles, was er fürchtete und woran er glaubte, verarbeiten müsse, um wahrhaftig zu schreiben.
Auch „Willnot“ hat etwas von einem Science-Fiction-Roman. Ihr Held Lamar Hale lag als Junge im Koma, und man könnte manchmal den Eindruck gewinnen, er sei nie wirklich daraus erwacht. Ist „Willnot“ in Wahrheit eine Art Wachtraum?
Sehr wahrscheinlich hat Lamar durch das Koma eine Art Doppelbewusstsein entwickelt. Vielleicht ist er wie Billy Pilgrim in Kurt Vonneguts Schlachthof 5 ein Gefangener der Zeit. Dafür spricht das angesprochene Doppelbewusstsein, aber auch seine Beziehung zur Science-Fiction mit ihren alternativen Realitäten und Willnot selbst, dem Ort, der aus der Zeit gefallen zu sein scheint.
Sie haben ja selbst eine Vergangenheit als Science-Fiction-Autor.
Ja, meine ersten Geschichten wurden zur selben Zeit veröffentlicht wie meine ersten Gedichte. Zunächst in dem britischen Science-Fiction-Magazin New Worlds, später in diversen Anthologien. Als ich dann in den späten sechziger Jahren in London lebte, habe ich zusammen mit Michael Moorcock New Worlds herausgegeben und Geschichten zwischen Sci-Fi, Horror und Phantastik von Autoren wie Harlan Ellison, Chip Delaney oder Brian Aldiss veröffentlicht.
Wie kam es dazu, dass Sie ins Krimigenre gewechselt sind?
Mike Moorcock hat mich mit Chandler und Hammett bekannt gemacht. Und während ich Buch nach Buch las, bekam ich immer mehr den Eindruck, einer archäologischen Expedition beizuwohnen. Als würde ich mit den Autoren, mit Schaufeln und Bürsten bewehrt, immer tiefer graben, um irgendwann auf die Wahrheit zu stoßen – was Amerika werden wollte und was tatsächlich daraus wurde. In den kommenden Jahren dann entdeckte ich Autoren wie Jim Thompson, David Goodis und Chester Himes, aber es dauerte noch lange, bis ich selbst Kriminalgeschichten schrieb. Den Anfang machte eine Kurzgeschichte, die 1992 der Auftakt zu meinem ersten Lew-Griffin-Roman Stiller Zorn werden sollte.
Ihre Romane werden als die Genregrenzen sprengend beschrieben, weil sie sich nicht an die Konventionen halten.
Ich glaube nicht an Einschränkungen innerhalb des Genres. Und ich glaube andererseits nicht, dass ich mit dem Genre des Kriminalromans gebrochen habe. Ich habe neue Möglichkeiten innerhalb des Genres erforscht, denn es kann, wie die Sprache selbst, viel mehr ausdrücken, als es auf der Oberfläche offenlegt. Vielleicht ist der Kriminalroman weniger ein Genre als eine Form, eine Art über die Dinge nachzudenken.
Dazu passt, dass Sie einmal gesagt haben, dass es in Detektivromanen nicht um die Lösung eines Falls ginge.
Mit Chandler und Hammett wurden Detektivromane zu gesellschaftsanalytischen Romanen, die zeigten, was sonst unter den Teppich gekehrt wurde. Autoren wie Thompson oder Goodis verwandelten später Krimis in expressionistische Malerei, extravagant und atmosphärisch. Sie nahmen die vertraute Welt und verbogen sie, bis sie kaum wiederzuerkennen war.
Dennoch: Die meisten und bestverkauftesten Kriminalromane sind eher konventionell. Die Autoren denken in Absolutismen, in Kategorien wie Gut und Böse. Ein Satz wie dieser aus „Willnot“ wird sich dort nicht finden: „Ein Realist ist jemand, der denkt, die Welt sei einfach genug, sie zu verstehen.“
Das ist die aristotelische Logik, die das westliche Denken entscheidend geprägt hat: Alles muss entweder A oder nicht A sein. Auch wenn diese Art zu denken falsch und limitierend ist – die Welt, in der wir leben, bewegt sich eigentlich zwischen diesen Polen –, empfinden wir es als extrem schwierig, uns ihr zu entziehen. Die Künste durchbrechen dieses Schema, stellen unsere Gedanken infrage, schauen hinter die Dinge. Denn selbst die simpelste Sache ist komplexer, als wir uns jemals vorstellen können.
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