Angesichts der Notwendigkeit, Kulturgeschichte und -praxis feministisch und dekolonial zu revidieren, fallen die jüngsten Personalentscheidungen für die Chefposten wichtiger Berliner Kunstinstitutionen ziemlich enttäuschend aus (der Freitag 37/2021). Die Wahl von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung als nächstem Leiter des Hauses der Kulturen der Welt lässt allerdings hoffen. Mit der Autorin und Kuratorin Margarita Tsomou sprach er über kulturelle Übersetzung, Sound als Medium von Erinnerungskultur und Fragen von Rehabilitation angesichts kolonialer Gewalt. Sie haben beide unter anderem für die documenta 14 gearbeitet.
Margarita Tsomou: Bonaventure, als ich dich vor einem Jahr in dem von dir und anderen gegründeten Kunstraum SAVVY Contemporary im Wedding traf, sagtest du, dass du in absehbarer Zeit zurück nach Kamerun möchtest – was wird daraus jetzt, wo du zum zukünftigen Direktor des HKW in Berlin ernannt worden bist?
Bonaventure Ndikung: Es ist kein „Zurück“. Man geht nie „zurück“, da Raum und Zeit sich ändern, sondern eher weiter. Dieser Mythos, dass man sich auf einen Ort reduzieren muss, ist Vergangenheit. Zukunft ist, dass man sich mit mehreren Orten, Biografien und Geschichten gleichzeitig auseinandersetzt. Ich bin in Yaoundé geboren, der Hauptstadt von Kamerun, aber in Bamenda aufgewachsen, im anglophonen Teil des Landes. Nachdem Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hatte, hat es seine Kolonien verloren, und Kamerun wurde zwischen Frankreich und England geteilt. Im anglophonen Teil gibt es seit 1961 politische Probleme, die in den letzten fünf Jahren eskaliert sind, und als Folge wurden viele ins Exil gezwungen. Mein Vater zum Beispiel ist deshalb in den USA gestorben. Das heißt, es macht Sinn, hier im Westen zu sein und Entwicklungsarbeit zu leisten. Aber ich habe das Bedürfnis, meine Arbeit auch dort zu machen. Es ist meine Verantwortung. Ich habe die Bibliothek meines Vaters nach Berlin gebracht und bei SAVVY zum Beispiel das 1963 gegründete Abbia-Magazin digitalisiert, eine der ersten Kulturzeitschriften Kameruns. Die Idee wäre, nun zum Originalort zu gehen und auch dort eine Bibliothek, einen Ort des kritischen Diskurses, ja, so was wie ein SAVVY zu etablieren. Kamerun ist eins der neoliberalsten Länder der Welt geworden. Douala ist fünf Mal teurer als Berlin. Dabei wird stets angemahnt, sich ökonomisch weiterzuentwickeln. Ist dieser Mythos von Überproduktion und -konsumption wirklich Entwicklung?
Wenn du von dieser Gleichzeitigkeit sprichst, muss ich an die kulturelle Übersetzungsleistung denken, die seit Jahren eine ständige Praxis bei SAVVY ist. Wie gehst du mit den Herausforderungen der permanenten Kontextverschiebung und der kulturellen Übersetzung um?
Übersetzung ist eines der kompliziertesten Verfahren überhaupt. Wie macht man das? Man macht es mit Respekt. Das heißt, es geht nicht darum, etwas von einem Ort dem anderen aufzuzwingen. Das ist genau das Problem, das wir mit dem westlichen Wissen gehabt haben. Ein kleines Beispiel: In African Fractals schreibt Ron Eglash, dass es in Afrika – sei es in Kamerun oder Südafrika – ein fraktales Raumdenken gab, das in einer zyklischen Stadtplanung resultierte. Das heißt, Häuser wurden zyklisch angeordnet, um aus bestimmten soziopolitischen Gründen Gesellschaft entsprechend zu strukturieren. Im Westen wiederum sind die Straßen in Geraden, Rechtecken und Kreuzungen angeordnet. Und im kolonialen Prozess hat man dieses Raumverständnis anderen Gesellschaften aufgezwungen. Stell dir mal vor, wie lange die Leute brauchen, um sich da neu zu orientieren und sich in ihrem eigenen Raum wiederzufinden. Damit haben wir bei SAVVY im Projekt That, around which the universe revolves beschäftigt, wo es um Henri Lefebvres Rhythmusanalyse ging. Er spricht von Rhythmus im Raum, bleibt aber im westlichen Kontext stecken. Wir haben das Projekt zunächst in Lagos angefangen, einer Stadt mit 25 Millionen Menschen, mit entsprechendem Raum-Zeit-Rhythmus, total anders als westliche Städte. Wir kamen nicht und sagten: „Weil Paris so ist, soll es in Lagos auch so sein.“ Nein, wir versuchten zusammen mit den Menschen den Rhythmus der Stadt zu verstehen und zu erleben. Erst danach ging das Projekt nach Düsseldorf, Hamburg oder nach Harare in Simbabwe weiter.
Zur Person
Bonaventure Soh Bejeng Ndikung wurde 1977 in Yaoundé, der Hauptstadt von Kamerun, geboren. Er ist Kurator, Kunsttheoretiker und promovierter Biotechnologe. 2009 gründete er den Kunstraum SAVVY Contemporary in Berlin als Plattform für westliche und nicht westliche Diskurse. Ndikung leitet als Nachfolger von Bernd Scherer ab 2023 das HKW in Berlin
Rhythmus und Sound scheinen bei deiner Arbeit zentral zu sein. Kürzlich hast du die traditionsreiche Ausstellung Sonsbeek in Arnhem eröffnet, wo es um Arbeit und ihre „Schallökologien“ („sonic ecologies“) geht. Wir haben es auch beim Radioprojekt SAVVY Funk auf der documenta 14 erlebt. Es ist so, als wäre Klang, Musik oder Widerhall für dich eine Art Methode zur Vermittlung von Inhalten.
Es geht mir darum, dass mit Sound Dinge nicht auf das Kognitive reduziert werden. Das Kognitive ist wichtig. Das Phänomenologische ist mir wichtiger, das heißt Bewegung und Raum, das Denken mit dem ganzen Körper. Deshalb versuche ich Klangräume zu schaffen. Es geht aber auch um Widerhall, um Echos, darum, wie etwas zum Beispiel in der Geschichte zurückhallt. Wenn wir das Beispiel Mauerfall nehmen würden, wie hallt es in unserer Zeit zurück? Die physische Mauer ist gefallen, aber ist die in den Köpfen auch gefallen?
Wie meinst du das – ist das Echo also auch als ein Vergegenwärtigen von Geschichte zu verstehen?
Geschichte nimmt zwar unterschiedliche Formen an, bleibt aber präsent. Folgt man der Physik, ist eine der Regeln der Thermodynamik, dass man Energie nicht zerstören kann. Sie kann nur von einer Form in eine andere transformiert werden. Das heißt, es ist etwas passiert, es ist transformiert – aber es ist da, und wir müssen uns damit auseinandersetzen, da es sich ja auch wieder in die andere Richtung transformieren kann! Es reicht nicht, zu sagen: Wir feiern und gedenken – was heißt „gedenken“? Was heißt „erinnern“? Was ist der Unterschied zwischen einer kollektiven Erinnerung und einer institutionellen Erinnerung?
Bei SAVVY habt ihr kürzlich das Projekt „For the phoenix to find its form in us“ über Restitution, Rehabilitation und Reparation gestartet, das über die Frage des „Zurückgebens“ hinausgehen möchte.
Ich bin schon immer dafür eingetreten, dass ausnahmslos restituiert werden muss. Dafür müssen Bedingungen geschaffen werden. Es gibt sehr viel, was kaputtgemacht wurde, auf beiden Seiten. Das ist vielleicht eine spirituelle Sache, aber auch eine epistemologische: Wenn ich dir etwas wegnehme, dann mache ich etwas bei dir kaputt. Wenn ich das lange behalte und darauf poche, dass es jetzt mein Besitz ist, dann mache ich bei mir auch etwas kaputt, dieser Reparaturprozess muss also beidseitig stattfinden. Das Auswärtige Amt hat schon sehr viel getan – ich denke etwa an die Verhandlungen von Andreas Görgen mit Nigeria und anderen afrikanischen Ländern. Auch die Beauftragte für Kultur und Medien arbeitet daran, Monika Grütters hat den Weg geebnet für mehr Provenienzforschung. An der Frage, was Restitution im Detail eigentlich bedeutet, muss weitergearbeitet werden. Wie kann man sich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen und sich davon verabschieden, dass das, was aus aller Welt kommt, als preußischer Kulturbesitz deklariert wird?
Dabei, sagt ihr, geht es nicht nur um Objekte, sondern um die Rehabilitation von Menschen – was könnte das konkret bedeuten?
Die Gebeine von Afrikanern müssen zurückgeschickt werden. Rehabilitation bedeutet auch Provenienzforschung, um zu etablieren, wer diese Menschen sind, sie an ihre Familien in Namibia, Tansania, Ruanda und so weiter zurückzugeben. Es ist Rehabilitation, wenn die Familien die Gebeine ihrer Leute, die in den Museen in Deutschland waren, endlich mal mit Würde begraben können. Eine andere Sache ist etwa, die Verbindung zwischen dem Kolonialismus und den geflüchteten Menschen von heute zu ziehen. Die Enteignung findet in Bezug auf Artefakte statt, aber auch in Bezug auf Menschenleben. Für mich gehört dieses Thema zur Rehabilitation dazu: Um das eine zu heilen, muss man das andere auch heilen. Ein anderes Beispiel wäre Michael Rakowitz: Wie geht man als irakisch-amerikanischer Künstler damit um, in ethnografischen Museen ausgestellt und objektifiziert zu werden? Wie schafft man es, nicht mehr zum Objekt zu werden und seine Subjektivität zu behalten? Die Geschichte des „Zong-Massakers“ 1781 ist paradigmatisch für die Objektifizierung: Auf dem Sklavenboot Zong, das Menschen aus Westafrika in die Karibik schiffte, wurden 140 Menschen von Bord geworfen, und anschließend wurde für diese „verlorenen Gegenstände“ Versicherungsgeld kassiert. Rehabilitation heißt, nicht mehr als Objekt zu gelten und seine Subjektivität, sein Wesen, ja seine Humanität zurückzuerlangen.
Mit SAVVY habt ihr eine „Grassroots“-Institution aufgebaut, die entlang des Konzepts des „De-Centering“ das vermeintliche „Außen“ im Zentrum etabliert hat. Wie gehst du mit der Herausforderung um, dieses Ethos, das sich an Minderheiten und sozialen Bewegungen orientiert, in eine repräsentative Institution wie das HKW zu überführen?
Ich habe nie gedacht, dass wir ein „Außen“ wären. Außen wovon? Das ist es doch: Das Konzept der Dezentralisierung hebt den Unterschied zwischen vermeintlichem Zentrum und Peripherie auf. Wir waren nie Peripherie, sondern stets unser eigenes Zentrum. SAVVY wurde als Laboratorium ins Leben gerufen. Diese Experimentierfreudigkeit würde ich gern mitnehmen. Ich bin nicht an Repräsentation interessiert. Wir sind präsent und brauchen keine Repräsentation. Im Haus der Kulturen der Welt will ich weiterhin Gesellschaft gestalten. Das ist alles, was wir tun müssen. Und zwar gemeinsam. Allen, die mir zur Berufung gratuliert haben, habe ich auch zurückgratuliert – es ist eine Aufgabe für die Gemeinschaft.
Was passiert ab 2023 mit SAVVY? Wie bereitest du es auf diese Veränderung vor?
SAVVY lebt weiter. SAVVY ist nicht Bonaventure, sondern besteht aus über 20 Leuten, die großartige Arbeit leisten, kuratieren, Gelder organisieren, putzen oder Festivals gestalten. Wir haben immer gesagt: SAVVY ist keine Institution, es ist eine Struktur im Werden. Diese Prozesshaftigkeit muss stets als unabgeschlossen bewahrt werden. Wir können von SAVVY lernen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.