Die "Verhütung erbkranken Nachwuchses" im Nationalsozialismus

Nie wieder Faschismus! Vor 90 Jahren, am 1.1.1934, trat das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" in Kraft

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Immer wieder wird die Fehlinformation verbreitet, der Nationalsozialismus sei für die Angehörigen der sogenannten „Volksgemeinschaft“ ein Wohlfahrtsstaat gewesen.

Dem möchte ich, besonders angesichts des aktuellen Auftretens von Politikern, die sich teils explizit auf den Nationalsozialismus beziehen, Fakten entgegenstellen. Weder war die Zugehörigkeit zur „Volksgemeinschaft“ ein Garant für soziale Absicherung, noch konnten sich insbesondere ärmere Menschen dieser Zugehörigkeit sicher sein. Im Gegenteil lebten ärmere Menschen in ständiger Gefahr, aus der „Volksgemeinschaft“ ausgegrenzt und als sogenannte „Volksschädlinge“ verfolgt zu werden.

So trat am 1.1.1934 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft1. Ziel war, gemäß nationalsozialistischer Ideologie, die „völkische Aufartung“, die Züchtung einer „hochwertigen arischen Rasse“. Daher sollten Menschen, die als „Ballastexistenzen", als „minderwertig“, „gemeinschaftsfremd“, „erbunwürdig“ eingestuft wurden, an der Fortpflanzung gehindert und so aus der sogenannten „Volksgemeinschaft“ ausgemerzt werden.

Es wurden ca. 250 sogenannte „Erbgesundheitsgerichte“ eingerichtet, an denen neben Richtern auch Ärzte, Psychiater, Humangenetiker und Anthropologen Urteile fällten. Auch Gesundheitsämter, Fürsorgebehörden, Krankenhäuser und Gefängnisleitungen konnten diesen Gerichten Anträge auf Zwangssterilisation stellen. War der Beschluss gefasst, hatte der „beamtete Arzt [...] bei der Polizeibehörde die erforderlichen Maßnahmen zu beantragen. Soweit andere Maßnahmen nicht ausreichen, ist die Anwendung unmittelbaren Zwanges zulässig“, hieß es im Gesetz. Etwa 400.000 Menschen wurden aufgrund dieses Gesetzes zwangssterilisiert, hinzu kamen außergesetzliche Sterilisationen in unbekannter Zahl.

Die Betroffenen waren etwa je zur Hälfte Männer und Frauen. Frauen wehrten sich oft stärker gegen die Sterilisation, zum einen da ihre Lebensplanung stärker beeinträchtigt war als die der Männer, zum anderen, weil der Eingriff für Frauen mit einem größeren gesundheitlichen Risiko verbunden war. Tatsächlich waren neun Zehntel derjenigen, die während oder in Folge des Eingriffs starben, Frauen2.

Sterilisiert wurden sowohl Körperbehinderte, darunter taube und blinde Menschen sowie Menschen, die unter Epilepsie oder Chorea Huntington litten, als auch psychisch Kranke und Alkoholkranke. Die im Gesetzestext zuerst genannte „Erbkrankheit“ aber war der sogenannte „angeborene Schwachsinn“. Zwei Drittel der Opfer der Zwangssterilisierungen fielen in diese Kategorie. Darunter waren wiederum zwei Drittel Frauen3.

Wer waren diese sogenannten „Schwachsinnigen“? Zum einen fielen darunter Menschen, die heute eventuell als „geistig behindert“ bezeichnet werden würden. Darüber hinaus erfanden die nationalsozialistischen Ideologen die Kategorie „moralischer Schwachsinn“. Darunter fielen auch die sogenannte „Asozialität“ und die „mangelnde Lebensbewährung“. So konnte etwa Arbeitslosigkeit, häufig wechselnde Arbeitsstellen oder Wohnungslosigkeit zum Sterilisationsbeschluss führen. Bei Frauen konnte etwa „fehlende Fügsamkeit“ in Ehe und Familie oder „Liederlichkeit“, vermeintliche Unfähigkeit zur Führung eines „geordneten Haushalts“, als „moralischer Schwachsinn“ gewertet werden. Außerehelicher Geschlechtsverkehr war bei heterosexuellen Männern kein Verfolgungsgrund, wohl aber bei Frauen oder trans-Personen und Personen, die vermeintlich oder tatsächlich der Sexarbeit nachgingen. Auf diese Weise wurden soziale Verhältnisse und Geschlechterverhältnisse, in denen Menschen lebten, oder ihre Versuche, diese zu bewältigen, umgedeutet zu erblichen Eigenschaften der Menschen selbst.

Da man Erblichkeit unterstellte, war meist die ganze Familie betroffen. War beispielsweise bei einem Familienmitglied die Diagnose „Schizophrenie“ gestellt, fiel eines der Familienmitglieder als Alkoholoker*in auf oder wurde als „arbeitsscheu“ gebrandmarkt, so konnte dies auch bei den anderen Mitgliedern der Familie zum Sterilisationsbeschluss führen. Man sprach von „asozialen Sippen“. Selbst schlechte Schulnoten der Kinder konnten als Indiz für „erbliche Asozialität“ herhalten.

Die Bedrohung durch das Sterilisationsgesetz gab es selbstredend nur für Menschen, die in irgendeiner Form auffielen oder denunziert wurden. Wohlhabende Haushalte konnten den Einblick von außen meist eher verhindern und gerieten daher seltener ins Visier der Behörden. Dagegen ärmere Menschen, die aufgrund ihrer sozialen Lage zum Kontakt mit Wohlfahrtsamt, Fürsorge, Gesundheitsamt oder anderen Behörden gezwungen waren und aufgrund beengter Wohnverhältnisse auch stärker unter Beobachtung von Nachbar*innen oder Kolleg*innen standen, konnten sich der Verfolgung schwerer entziehen. Von Zwangssterilisierung betroffen waren daher weit überwiegend arme Menschen4. Insbesondere Menschen, die in Heimen, Obdachlosenasylen oder psychiatrischen Anstalten lebten, waren unmittelbar bedroht. Diese Einrichtungen wurden systematisch nach Sterilisationskandidat*innen durchsucht.

Besonders perfide: Frauen, die, aus welchem Grund auch immer, von dem Gesetz erfasst wurden, die aber gar keinen Geschlechtsverkehr ausübten, wurden oft dennoch zwangssterilisiert, weil die Machthaber davon ausgingen, dass die Frauen vergewaltigt werden. Der Schutz der Frauen vor Gewalt oder die Verfolgung der Vergewaltiger waren nicht Thema, es ging allein darum, eine Schwangerschaft der Vergewaltigungsopfer zu verhindern.

1935 wurde dem Gesetz ein Abtreibungsparagraph hinzugefügt. Fortan schützte auch eine Schwangerschaft bis zum 6. Monat nicht mehr vor dem Eingriff. Abtreibung und Sterilisation wurden in einem Eingriff vorgenommen5.

Die menschenverachtende Haltung der Nationalsozialisten sei hier anhand eines Ausschnitts aus einem Vortrag des Leiters des Rassenpolitischen Amts noch einmal verdeutlicht:

„Der asoziale Personenkreis ist ein typisch biologisch umschriebener Personenkreis mit charakteristischen erblichen Merkmalen und mit der Tendenz immer seinesgleichen als Partner, als Sexual- und Zeugungspartner zu suchen. … Und das Kind, dessen Vater als bekannter Landstreicher und Asozialer in den Listen steht, hat garantiert eine Mutter gleicher Wertigkeit bzw. Unterwertigkeit. Und es ist deshalb Wahnsinn, Geld und Arbeitskraft darauf zu vergeuden, nun das Produkt von zwei solchen minderwertigen Strolchen nun mit viel Mühe und Liebe und Betreuung vielleicht doch noch einigermaßen auf den rechten Weg zu bringen. Nein, was hier nottut, ist zweierlei: Erstens, die vorhandenen asozialen Individuen hart anzupacken. Das ist Aufgabe der Polizei. Und zweitens dafür zu sorgen, dass diese vorhanden asozialen Individuen nicht neue erzeugen. [] Hier ist eine biologische Maßnahme, nicht mehr eine polizeiliche, notwendig. Hier ist Ausschaltung aus dem Erbgang erforderlich. [...]“6

NIE WIEDER FASCHISMUS!

2Gisela Bock, Nationalsozialistische Geschlechterpolitik und die Geschichte der Frauen, In: Georges Duby, Michelle Perrot, Geschichte der Frauen, Band 5, 20. Jahrhundert, S.173 bis 204, hier: 176 ff

3Gisela Bock, S. 178

4 Wolfgang Ayaß: „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995, insbes. S.115ff

5Gisela Bock, S. 178

6Vortrag des Leiters des Rassenpolitischen Amts Dr. Walter Groß am 14. März 1940, Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt M. Band Nr.77 U 35371 (Tonaufnahme), Transkription in: Wolfgang Ayaß, „Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933-1945, Koblenz 1998, Nr. 98

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