In einem Café unweit des Bundeskanzleramtes sitzt Inge Hannemann und blickt zum nahen Berliner Hauptbahnhof. So bereitwillig sie Zeit für dieses Interview gewährt hat: Hannemann kann es kaum erwarten, gleich zurück nach Hamburg zu fahren, wo sie seit 2015 im Parlament des Stadtstaates sitzt, in der Bürgerschaft. Und wo sie, je nach Blickwinkel, zur „Nestbeschmutzerin“ oder zur „Hartz-IV-Rebellin“ wurde – als Mitarbeiterin des Jobcenters, die ihren Ermessensspielraum nutzte, um viele Sanktionsbescheide für Arbeitslose aufzuheben und per Blog die von der Agenda 2010 vorgesehene Bestrafungspolitik kritisierte. Nun hat Hannemann mit dem Gründer von mein-grundeinkommen.de, Michael Bohmeyer, und anderen das Projekt „Sanktionsfrei“ gestartet: Es will nicht weniger als die Abschaffung der Hartz-IV-Kürzungen, wegen versäumter Termine im Jobcenter etwa. Unter anderem darum hat das Onlinemagazin Edition F Inge Hannemann gerade zu einer von „25 Frauen, die unsere Welt besser machen“ erklärt.
der Freitag: Frau Hannemann, Sie wollen die Hartz-IV-Sanktionen abschaffen. Was aber ist mit den Leuten, die sich vielleicht in Hartz IV eingerichtet haben?
Inge Hannemann: Natürlich gibt es die. Aber die gab es auch schon immer. Nur drei bis sechs Prozent aller Leistungsempfänger sind das vielleicht und dennoch bestimmen sie mit der Bierdose in der Hand die öffentliche Wahrnehmung. Die Erwerbslosen, die aktiv sind oder aber vor Scham ihr Haus nicht verlassen, fallen dagegen nicht auf. Meine Erfahrungen mit sanktionsfreiem Arbeiten waren mit fast allen Erwerbslosen gut.
Was heißt das?
Ich löschte die Sanktionsdrohung aus dem Einladungstext für einen Termin, zu 90 Prozent erschienen die Eingeladenen dann. Im Durchschnitt liegt die Rate nur bei 40 bis 50 Prozent. Ich glaube nicht, dass die Leute zu mir häufiger kamen, weil sie dachten, ich hätte Arbeit für sie. Sie wussten, dass ich keine habe. Sie kamen, weil sie keine Angst haben mussten.
Warum gefährden Sanktionen zwangsläufig immer die Würde von Erwerbslosen?
Weil jede Sanktion eine Kürzung der Gelder bedeutet. Der Hartz-IV-Satz ist aber das Existenzminimum. Selbst wenn ich nur zehn Prozent kürze, 40 Euro etwa, dann schränkt das die Lebensqualität eklatant ein. Und es kann jeden vom 15. Lebensjahr an treffen, das verändert Leben. Ich lernte einmal einen jungen Menschen kennen, der durch die Sanktion meiner Vorgängerin obdachlos geworden war. Er bekam dann ein befristetes Zimmer in einem kirchlichen Wohnheim. Kurz darauf stellte ich fest, dass er hochbegabt ist. Er konnte letztendlich seine Traumlehrstelle antreten, abends sein Abitur nachholen und studiert nun Medizin. Dafür hat es keine Sanktion gebraucht. Sondern Zeit, anderthalb Jahre.
Wer einfach seine Termine beim Jobcenter einhält, der muss keine Sanktionen befürchten.
Na ja. Manche Menschen werden nur alle sechs Monate eingeladen, da würde ich auch sagen: Das ist zu schaffen. Aber manche werden alle zwei Wochen eingeladen. Was soll dabei der Sinn sein, wenn wir gerade für Langzeitarbeitslose eh keine Jobs zu vermitteln haben? Die Menschen dann in Ein-Euro-Jobs zu parken oder andauernd in Bewerbungstrainings zu stecken, macht genauso wenig Sinn, gerade auch aus Sicht der Steuerzahler. Diese Sinnlosigkeit ist es, die die meisten entmutigt.
Zur Person
Inge Hannemann, 48, wurde als Speditionskauffrau sowie Netzwerkadministratorin ausgebildet, sie ist studierte Fachjournalistin und PR-Referentin. Sie hat als Arbeitsvermittlerin in Jobcentern in Freiburg und Hamburg gearbeitet, wurde 2013 wegen ihrer Kritik an der Hartz-IV-Praxis freigestellt und ins Integrationsamt versetzt. 2015 wurde sie in Hamburgs Landesparlament gewählt, sie gehört dort der Linksfraktion an. Im gleichen Jahr erschien ihr Buch Die Hartz-IV-Diktatur bei Rowohlt
Was soll und kann Ihr Projekt „Sanktionsfrei“ daran ändern?
Bei den Sanktionsbescheiden gibt es eine riesige Anzahl von Formfehlern. Jedem dritten Widerspruch, der eingelegt wird, wird Recht gegeben. Allerdings wehren sich bisher nur fünf Prozent der Betroffenen und legen auch Widerspruch ein. Wir wollen nun eine Onlineplattform aufbauen; dort können Erwerbslose Bescheide hochladen, wir bieten rechtlichen Beistand, Beratung, wir helfen bei Widersprüchen und Klagen. Und zugleich können sich Betroffene den Sanktionsbetrag, mit dem sie belegt wurden, von uns auszahlen lassen. Das soll ihnen primär Entspannung bringen, damit sie ihre Rechte wahrnehmen. Überhaupt, diese Rechte sind viel zu wenigen bekannt, das wollen wir ändern. Dafür haben wir per Crowdfunding bisher fast 130.000 Euro gesammelt, es fehlt nicht mehr viel.
Warum gibt es Ihrer Meinung nach denn so viele Sanktionen, die nicht rechtens sind?
Egal wie die Arbeitsauslastung im Jobcenter aussieht: Es wird oft recht schlampig gearbeitet und so geschehen leichtsinnige Fehler. Außerdem ist das Sanktionsthema sehr komplex. Es gibt viele Quereinsteiger unter den Mitarbeitern der Jobcenter, die kennen oft die rechtlichen Grundlagen gar nicht.
Kennen Sie Alternativen zum Hartz-IV-System, das eben stark mit Drohungen und Sanktionen arbeitet?
Ja, die skandinavischen Länder und Holland. Dortige Programme beruhen zwar auch auf der Basis von Zwang, sie führen dabei aber meist in Arbeit. Oft lehnen sie sich an vorherige Jobs der Erwerbslosen an. Und nirgendwo wird die Unterstützung auf null gekürzt. Selbst das Horrorbeispiel Großbritannien ist nicht so restriktiv wie unser System in Deutschland. Ich bin jedes Jahr dort und be-obachte: Wenn Jobcenter dort die Unterstützung kürzen, steigen sofort die Sozialzentren ein.
Viele Erwerbslose leiden gerade darunter, dass sie ohne Beschäftigung sind. Wäre es darum nicht zielführend, ihnen Tätigkeiten zu vermitteln, in Sozialvereinen zum Beispiel?
Engagement finde ich natürlich gut, aber ich würde nie Menschen in Ein-Euro-Jobs stecken, damit sie sich gebraucht fühlen und einen geordneten Tagesablauf haben. Das müssen die Menschen selbst entscheiden. Und es sollte dann wenigstens Mindestlohn gezahlt werden. Ich sehe das Ehrenamt sehr kritisch. An vielen Stellen, in der Flüchtlingshilfe etwa, verlässt sich die Regierung viel zu sehr auf das Ehrenamt. Und das, wo doch stadteigene Betriebe oder Träger, in Hamburg etwa „Fördern und Wohnen“, das Geld haben, um etwa sozialversicherungspflichtige Jobs zu schaffen. Aber wir brauchen neue Ansätze, allen voran das Grundeinkommen. Stellen wir uns vor, es käme morgen: Wir wären überfordert von dem Gewinn an Freiheit in einer Leistungsgesellschaft. Denn auf einmal müsste sich jede und jeder mit sich selber beschäftigen und fragen: Was will ich in meinem Leben machen?
Ohne Sanktionen und mit einem höheren Hartz-IV-Satz hätten wir doch eine Art bedingungsloses Grundeinkommen, oder?
Ein Grundeinkommen ja, aber nicht bedingungslos. Man müsste sich schließlich immer noch nackt machen, Vermögen offenlegen, bei Bedarf Kontrolleure in die eigene Wohnung lassen, jede Tätigkeit an-nehmen. Das wäre dann eher wie die Arbeitslosenhilfe, vor Hartz IV. Da gab es zwar auch Sperrzeiten, eine Art Sanktion, aber dann eben Sozialhilfe. Die konnte zwar auch ausgesetzt werden, aber das war damals eigentlich der absolute Ausnahmefall.
Wie würden Sie denn stattdessen das Grundeinkommen starten?
Erst einmal mit einer Kindergrundsicherung von 500 Euro: das ein Jahr testen und evaluieren. Und dann würde ich Schritt für Schritt das bedingungslose Grundeinkommen für Erwachsene einführen. Es geht da ja oft um die 1.000 Euro des Modells von dm-Grün-der Götz Werner. Aber das würde in vielen Großstädten allein wegen der Mietkosten gar nicht reichen, außerdem reden wir da von einem Bruttobetrag, nach Steuern und Versicherungen bleibt womöglich weniger übrig als mit Hartz IV. Der Betrag muss jedenfalls regional aufgeschlüsselt werden. Und statt wie im Konsummodell Götz Werners die Mehrwertsteuer zu erhöhen, plädiere ich für eine Umver-teilung. Das Geld ist ja da, es ist nur schlecht verteilt. Anfangen würde ich bei den Ausgaben für Rüstung. Und in der Tat würden viele Kos-ten wegfallen: alle Sozialtransfers, inklusive Rente, Bafög, Wohn-geld und so weiter.
Finnland testet gerade ein Grundeinkommen.
Das in Finnland ist doch kein Grundeinkommen! Von dem Geld müssen auch noch unter anderem Sozialversicherungen bezahlt werden. Danach bleibt nur sehr wenig übrig. Interessanter finde ich die Schweiz, wo gerade sage und schreibe jeder Fünfte für das Grundeinkommen gestimmt hat.
Und Deutschland?
Es gibt hier so viele Gruppen, die sich mit dem bedingungslosen Grundeinkommen beschäftigen, aber so wenig Austausch. Das finde ich schade. Allein die Linke hat drei Modelle entwickelt, es gibt Götz Werner und ein spannendes Modell von den Piraten. Ebenso natürlich Pseudo-Modelle wie das Bürgergeld der FDP. Mein Vorschlag: Alle Modelle in einen Topf, dann eine Enquete-Kommission darüber brüten lassen. Wir müssen darauf achten, wer dabei welche Interessen hat. Viele Unternehmen würden sich natürlich freuen, die Sozialbeiträge und dadurch Lohnkosten zu sparen.
Sie haben sich während Ihrer Zeit in der Arbeitsagentur überdurchschnittlich viel Zeit für die Leute genommen, für Einzelprüfungen. Mit Grundeinkommen drohen Menschen, die besonderer Unterstützung bedürfen, durch das Raster zu fallen.
Ich war in einem Jobcenter für schwerbehinderte Menschen beschäftigt und muss sagen: Viele nicht allzu stark beeinträchtigte Menschen sind belastbarer, als man denkt. Sie wollen oft, aber man lässt sie nicht. Das geht mit Tonverstärkern für Schwerhörige los. Wir können unsere Arbeitswelt viel inklusiver gestalten, manche Unternehmen zeigen das schon.
Es geht bei Grundeinkommen und Sanktionen am Ende doch immer um die Frage, welchem Menschenbild jemand anhängt. Finden Sie die Diskussion daher nicht müßig?
Das ist nicht müßig! Ich stelle oft bei meinem Gegenüber fest, dass sich da etwas tut. Schwierig ist es da bei vielen Politikern, ihnen zu erklären, was Menschenwürde ist.
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