BRD – Null. DDR – Eins

WM 1974 – Vorrunde Vor vierzig Jahren bezwang die Nationalmannschaft der DDR die der BRD durch ein Tor von Jürgen Sparwasser. Unser Autor erinnert sich
BRD – Null. DDR – Eins

In der DDR geht es zweitklassig zu, auch im Fußball. Das war gewiss, als ich mich am 22. Juni 1974 mit Papa vor den Fernseher setzte, um dem Untergang der Kommunisten beizuwohnen. Trübes Wetter in Hamburg. Recht so, Kaiserwetter für Kommunisten wäre ganz falsch. Ah, die Aufstellung der Grenzsoldaten: Croy. Klingt wie Cruyff für Arme. Kreische nach Proletenmanieren. Sparwasser… Jetzt müssen die schon am Wasser sparen, he, he. Andererseits: „die armen Menschen drüben“ (Mutti, 17. Juni). Komische Nationalhymne, warum haben die überhaupt eine?

Eineinhalb Stunden später. Ein Alptraum. Sie führen, nach kommunistischem Diagonalpass. Papa immer skeptischer, immer enger die Arme vor der Brust verschränkend. „Wie kann der Vogts dem Sparwasser so viel Raum lassen?“ Genau. Wer so verteidigt, ist auch für die Ostverträge. Zwölf Minuten haben wir noch. Acht. Ich halte es nicht mehr aus, schleiche mich ins Kinderzimmer, knie vorm Kreuz: Nur ein Tor, lieber Gott! Von Netzer! Unentschieden reicht! Aber Er erhörte mich nicht.

Er erhörte mich nicht nur nicht ‒ Netzer spielte am gottesfernsten. Die erste Glaubenskrise, vergleichbar der ein halbes Jahr später, als Nscho-Tschi in Winnetou I von Santer (Mario Adorf) erschossen wurde und einfach nicht mehr aufstand. (Mario Adorf hat Nscho-Tschi erschossen, das wollen wir mal festhalten.)

Nicht übertreiben!

Schlusspfiff in Hamburg. Ich war sehr still, erstaunlich gelassen dagegen Papa. Wollte sich wohl seine politische Hochstimmung nach Brandts Rücktritt ‒ 7. Mai, „Darauf einen Dujardin“ ‒ nicht vermiesen lassen. Zu Tode betrübt war nur ich. Dass Er das zuließ. Lange noch träumte ich von Sparwassers Purzelbaum, dem Purzelbaum auf einer Kinderseele.

Zwei Wochen später war wieder alles normal, die DDR in der Zwischenrunde rausgeflogen, der Kaiser dagegen hielt den Cup hoch, weil Berti den Cruyff vernascht hatte. Und der Himmel klarte auf eine Stunde nach dem Holland-Spiel. An unserem kleinen Familien-Spaziergang nahm ich mit einem gewissen Hochgefühl teil. Da kamen uns drei Männer mit Deutschland-Fahne entgegen. Fett, besoffen und stark schwitzend, klopften sie sich gegenseitig auf die Schultern: „Wir sind Weltmeister!!“Hm. Na ja, ihr eher nicht. Mir könnt ihr nichts vormachen, ich werde bald acht.

Der Anblick des Trios ernüchterte mich gründlich. Von da an sagte ich mir, dass man es nicht übertreiben darf mit dem Fußball. Der Sieg von München war schön, ja. Aber ich nahm ihn nicht mehr als nationalen Triumpf. Auch nicht mehr als politischen. Nur noch als den verspäteten Gottesbeweis.

Markus Joch ist Associate Professor am Department of German Literature der Keio University in Tokyo

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