Von „Wo Milch und Honig fließen“ bis „Der Stillstand“: Vier Bücher blicken in die Zukunft
Literatur C Pam Zhang, Bernhard Kegel, Thea Mengeler, Jonathan Lethem: Vier literarische Szenarien porträtieren unsere Welt, wie sie bald sein könnte – Apokalypse, Hoffnung, alles möglich!
Irgendwo zwischen Katastrophenstimmung und Hoffnungsschimmer: der Berlin-Roman „Gras“ von Bernhard Kegel
Foto: Eduard Delputte/unsplash
Literatur beschäftigt sich mit dem, was ist oder noch nicht ist, aber möglicherweise noch werden kann. Sie arbeitet also mit dem, was wir noch nicht wissen, uns aber vorstellen können. Sie modelliert die Zukunft aus einer als krisenhaft empfundenen Gegenwart heraus. Die dystopische Modellierung dessen, was uns bevorsteht, und ein formal und inhaltlicher immer wiederkehrender Bezug auf gesellschaftliche Zukünfte sind gewichtige Trends in diesem Bücherfrühjahr.
Bernhard Kegels Gras ist ein Amalgam aus Wissenschaftsroman, Ökothriller und populärer Fantastik. Kegel, Autor von populären Sachbüchern und seit Der Rote (2005) bekannt für seine Wissenschaftsprosa der Meeresforschung und der Biologie, erzählt in seinem Buch von einem Berlin,
einem Buch von einem Berlin, das von einer Grasart namens „Invicta“ heimgesucht wird. Das Gras erweist sich, so muss man den Namen übersetzen, als unbesiegbar. Das Gras wird der Metropole Berlin zum „Verhängnis“, weil alle Maßnahmen scheitern, alle Infrastruktur versagt. Die Natur schlägt in Gestalt des unbesiegbaren Grases zurück: „Kurz vor dem Kollaps hatte die Natur begonnen, sich zu wehren. Sie holte zu schrecklichen Gegenschlägen aus, und Invicta war einer davon. Es war eine Art Selbstreinigung, eine Lektion der Natur, die uns Demut lehren sollte.“Diese Appellstruktur ist ja eine beliebte Eigenschaft des Ökothrillers spätestens seit Frank Schätzings Der Schwarm. Bei Kegel erscheint dieser Appell in Gestalt des Berliner Regionalkrimis. Die ganze Geschichte beginnt auf dem Bundesplatz in Wilmersdorf, wo die angehende Biologin zwischen den Pflastersteinen zarte, aber hellgrüne Halme eines Grases entdeckt, das zu leuchten scheint. Sie versucht sich einen Reim auf die Pflanze zu machen, die sich unaufhörlich ausbreitet. Die zwei Erzählstränge – die Biologin als Ermittlerin eines wissenschaftlichen Rätsels und ihr Kampf ums Überleben in einem evakuierten, postapokalyptisch anmutenden Berlin – werden kunstvoll und populär miteinander in Beziehung gesetzt. Es hat eine Leserzielgruppe im Blick, die Lust auf Wissenschaft hat und populäre Formate wie den Regionalkrimi und realistische Erzählverfahren schätzt.Schon der Titel Wo Milch und Honig fließen weist darauf hin, womit man es in C Pam Zhangs großartigem Roman, der in seiner poetischen Kraft ihrem 2020 erschienenen Wie viel von diesen Hügeln ist Gold in nichts nachsteht, zu tun hat. Bekanntlich ist in der jüdisch-christlichen Überlieferung Kanaan das Land, in dem Nahrungsmittel im Überfluss vorhanden sind – eben Milch und Honig. So wird gleich mit dem Titel das eingeführt, worum es in dem Text geht: um eine Welt, aus der sowohl die Kühe, die Milch geben, als auch die Bienen, die Honig produzieren, verschwunden sind.Zhang erzählt ihre Geschichte durch das Ich einer amerikanisch-chinesischen Spitzenköchin, deren Kompetenzen in einer Welt, in der „Glück, frisch, bald“ weder Substantive mit Sinn noch Adjektive der Hoffnung sein können, nicht mehr gefragt sind. Doch dies ist nur scheinbar so: Sie bewirbt sich auf einen Job in der Küche einer sogenannten Forschungsgemeinschaft. Die Forschungsgemeinschaft entpuppt sich im weiteren Verlauf als Residenz für Superreiche, die dort erlesen speisen können. Zhang variiert damit ein populäres Narrativ unserer neoliberalen Gegenwart, das in Romanform zu Beginn von Kim Stanley Robinsons Das Ministerium der Zukunft (2021) und historisch in QuinnSlobodians Kapitalismus ohne Demokratie (2023) erzählt wird: der Rückzug der Superreichen in Resorts, Steueroasen und Gated Communitys.Zhang verbindet die Darstellung von wachsender Asozialität der Superreichen mit einer Poetik der Sinne, die in der Gegenwartsliteratur ihresgleichen sucht. Jede Ästhetik, auch die des Kochens, beginnt mit einer Sinneswahrnehmung: Ich rieche und schmecke, ich höre und sehe. Das Kochen wird bei Zhang gerade im Kontrast zur Welt jenseits des Berges zu einem Fest der Sinne, das nur gefeiert werden kann, wenn die Natur ihren Schatz an Gemüse, Fleisch und Kräutern öffnet. Wenn dieser Schatz nicht mehr da ist oder nur wenigen zur Verfügung steht, verkümmert der Mensch. Fast Food und Fertiggerichte sind eben nicht nur klimapolitisch ein Problem, sondern eben auch für die Entwicklung von Geschmacksnerven. Und, ganz wichtig, am Ende des Romans ist zwar nicht alles wieder gut auf der Erde, aber zumindest besser: Mehr sei hier nicht verraten.Insel-Utopie ohne UrlauberThea Mengeler nimmt in ihrem zweiten Roman Nach den Fähren (Connect erschien 2022) den/die Leser*in mit auf eine Insel. Nun ist die Insel nicht irgendein Ort. Eine Insel ist Schauplatz und Realisationsort von Utopien, weil sie ein Nicht-Ort zwischen Natur und der Zivilisation ist. Mengeler dreht in ihrem Roman, der eigentlich eine Novelle ist, die Geschichte der Inselutopie auf links. Auf einer beliebten Ferieninsel bleiben – keiner weiß, warum – die Fähren und damit die Urlauber*innen aus. Das ist das nicht erwartbare, unerhörte Ereignis, das das Erzählen in Gang setzt: eine klassische Novellenstruktur. Die Novelle ist der Ort der Katastrophe, der ausbleibenden Hoffnung, der Ort des Widerstands gegen das Schicksal oder die Natur, die der Mensch zu bezwingen meint.Das Ereignis der ausbleibenden Touristen und Fähren führt zu einer radikal veränderten Welt, in der der Konflikt zwischen dem Heute und dem Gestern ausgetragen wird: Die Vergangenheit der Insel wird in einem Museum der Dinge konserviert, die Gegenwart wird durch eine Liste des Verlorenen als Zeit des Verlustes gekennzeichnet. In poetischen Miniaturen und in glasklaren, fast schon nüchternen Worten schildert Mengeler eine Gesellschaft, der die Zukunft abhandengekommen zu sein scheint: keine Schule mehr, keine Kinder, keine soziale Horizonterweiterung durch Fremde. Bisweilen wirkt das Buch wie eine einzige Hommage an Judith Schalanskys Verzeichnis einiger Verluste (2019); formal, weil es mit dem Verfahren der Liste arbeitet, und inhaltlich, weil es sich mit dem beschäftigt, was verloren gegangen ist.Jonathan Lethem gehört mit Jonathan Franzen und Jonathan Safran Foer zu den drei großen Jonathans der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Sein eingängiges Schreiben, das er schon in Motherless Brooklyn (2001) und jüngst in Der wilde Detektiv (2019) vorgeführt hat, aktiviert das Archiv der Popkultur (Serien, Fernsehen, Popmusik, Literatur), um sich als absolut gegenwartsbezogen zu inszenieren. Mit Der Stillstand wagt Lethem nun den Schritt in eine Zukunft, in der die Medien des Populären verschwunden sind. Ausgangspunkt seines Zukunftsmodells ist der globale „Tod der Bildschirme“. Das ist eine Form des Stillstands, der dem Buch seinen Titel gibt: „Gmail, SMS, Wischen, FaceTime, Tweets und dergleichen erlitten einen Völkerkollaps.“ Dieser Ausfall führt dazu, dass der Held des Textes, Alexander Duplessis, genannt Journeyman, unter permanenten Digital-Detox-Bedingungen leben muss. Er führt nunmehr ein einfaches Leben, was dem/der Leser*in irgendwie unwirklich vorkommt, ja gleichsam fantastisch. Fantastisch deswegen, weil Lethem immer wieder die Gegenwart seiner erzählten Welt mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und so zwei Wirklichkeiten aufeinanderprallen lässt. Dieser Aufprall erzeugt einen Sog, dem der/die Leser*in sich nicht entziehen kann.Lethem hat in popliterarischer Manier einen postapokalyptischen Roman vorgelegt, der sehr unterhaltsam geschrieben ist und sich durch kluge Dialogführung auszeichnet. Im Vergleich zu den anderen Texten erzählt Lethem von einer Welt der fast schon idyllischen Einfachheit, die das Ergebnis eines Zusammenbruchs der digitalen Welt ist. Ob darin Hoffnung liegt oder eben die Apokalypse, muss jeder/jede Leser*in für sich entscheiden.Die hier besprochenen Bücher zeigen, dass unsere Zukunft möglicherweise eine Zeit des Verlustes sein wird. Sie kritisieren damit das vorherrschende Fortschrittsnarrativ gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklung. Sie zeigen, dass Literatur als Bilanz jener Entwicklungen aufzutreten in der Lage ist, die uns den Schlamassel, in dem wir leben oder leben werden, beschert haben: Mazel tov, Menschheit!Placeholder infobox-1
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