Alte Wunden

Vergangenheit Der renommierte Psychiater Klaus Maiwald begeht Selbstmord. Journalist András geht auf Spurensuche. Er löst das Rätsel seines Lebens
Ausgabe 16/2017

Kann jeder Mensch zum Mörder werden? Was bräuchte es, um einen durchschnittlichen Bürger in einen Mörder zu verwandeln? Einen Aussetzer? Hochkochende Gefühle, die zu einer Affekttat führen? Der Psychiater Klaus Maiwald ist sich sicher, dass praktisch jeder Mensch zum Mörder werden kann. Maiwald ist ein bei Journalisten und Fernsehproduzenten beliebter Psychiater, er ist so schön medientauglich. Seine Thesen von den dunklen Abgründen, die in jedem von uns lauern, lassen sich gut vermarkten. Man darf sich diesen Maiwald wohl wie einen jener Psychiater und Forensiker vorstellen, die es in den letzten Jahren in Fernsehformaten zu einiger Berühmtheit gebracht haben: Von Kollegen möglicherweise belächelt, wenn nicht sogar angefeindet, beim Zuschauer aber äußerst beliebt, weil ein authentisches Verbrechen dem Publikum einen wohligen Schauer über den Rücken jagt.

Nun aber ist der Psychiater gestorben. Selbstmord. Er soll sich erschossen haben. Das will so recht nicht in das Bild, das sich die Öffentlichkeit von dem Psychiater gemacht hat, passen. Trotz allem braucht es einen Nachruf und den soll Journalist András Winteler schreiben, der Maiwald kannte und mit dessen verstorbener Tochter Simone liiert war. Vielleicht gelingt es ihm, Maiwalds Beweggründe offenzulegen. Allerdings gerät András’ Leben gerade aus den Fugen, weil ihn Freundin Véronique verlassen hat. Ausgerechnet für einen schnöseligen Anwalt. Vielleicht erklärt dieser Umstand, warum sich András so sehr in die Recherchearbeit stürzt.

Es herrscht viel Schweigen

András nähert sich der Witwe und ehemaligen Freunden Maiwalds, um ein möglichst überzeugendes Porträt von diesem entwerfen zu können. Bei der Suche allerdings taucht allerhand schmutzige Wäsche auf. Das Interesse des Journalisten ist geweckt. András muss feststellen, dass die Geschichte der eigenen Familie und die Maiwalds viel enger miteinander verknüpft sind, als er es für möglich hielt. Es gibt scheinbar eine Verbindung zwischen seiner Mutter und Maiwald; allerdings umgibt diese Verbindung vor allem Schweigen. Wie auch den Selbstmord der Mutter. Diese hat sich ebenso wie Maiwald erschossen. Wenn man etwas aus den Fernsehsendungen über echte Verbrechen lernen kann, dann ist es der Umstand, dass Selbstmörder je nach Geschlecht Präferenzen für Suizidarten besitzen. Frauen bevorzugen demnach weiche Tötungsformen, wie beispielsweise Tabletten. Selbstmord mittels einer Schusswaffe ist dagegen mehr als ungewöhnlich. Insofern ergibt sich Raum für das Misstrauen des Sohnes.

Der Roman führt zurück in die Jugendjahre des Erzählers und zu dessen kläglichen Versuchen, Teil der Hausbesetzerszene zu werden, Simone zuliebe. Der Roman führt auch zurück zu den 68er-Protesten, zum Kommunardenleben der Eltern und deren Träumen von einer alternativen Kultur mit allem, was dazugehörte: freie Liebe und etwas liederliche Verhältnisse. Die meisten der ehemaligen Kommunarden sind nach dem Marsch durch die Institutionen in einem saturierten Vorstadtleben angekommen; nur einige von ihnen leben noch antikapitalistische Ideale, einer betreibt ein Antiquariat.

Je mehr Verbindungslinien András aufdeckt, umso seltsamer erscheinen die Selbstmorde der Mutter und Maiwalds, zumal die ehemaligen Freunde in beiden Fällen den Begriff des „Freitods“ benutzen. Das klingt in den Ohren des Journalisten wie ein Euphemismus. Oder schlimmer noch: wie eine Lüge. András will nicht an einen Zufall glauben, und beginnt eine obsessive Suche nach der Wahrheit. Das Problem des Buchs ist nur: Echte Spannung will sich nicht aufbauen, vor allem weil es dem Erzähler an echter Getriebenheit mangelt. Zwar legt der Autor dem Leser viele Gründe zurecht, aber keiner davon erscheint hinreichend. Ausgerechnet die psychologischen Feinheiten fehlen, um die obsessive Suche des Journalisten erklären zu können. Zwar sagt András immer wieder von sich, dass ihn die Sache nicht mehr loslasse, allein glauben kann man ihm das als Leser nicht wirklich. Das liegt auch daran, dass uns das Innenleben des Ich-Erzählers seltsam fremd bleibt. Überhaupt wirken die Charaktere etwas holzschnittartig, ihre intrinsische Motivation wird nicht sichtbar.

Demütigung als Triebkraft

Spannender wird es, als der Zufall als Deus ex Machina vom Autor herangezogen wird. Angesichts der Tatsache, dass ausgerechnet der Erzähler immer wieder an Zufällen zweifelt, wird die Handlung, die zur Entwirrung des Lügennetzes führt, aber zu stark von Zufällen beherrscht. Zufällig hat Freundin Susanne administrative Zugangsrechte zu Datenbeständen, zufällig kann der Freund Lukas herausfinden, wo der Obduktionsbericht der Mutter im Aktenschrank lagert. Nun muss András „nur noch“ in die Aktenkammer einbrechen. Dass ein gestandener Journalist Karriere und Reputation aufgrund eines schwachen Verdachts riskieren sollte, erscheint aber höchst unwahrscheinlich. Oder nicht? Das komplette Lügennetz wird schließlich durch den Fund einer Postkarte entwirrt. Auch diese wird durch einen Einbruch entdeckt. Wobei Einbruch das falsche Wort ist, weil zufällig die Tür des Hauses offen steht.

Immerhin decken die mühevollen Recherchen des Journalisten am Ende die Wahrheit auf. Sie bestätigt, was Maiwald immer annahm: dass Demütigung die gefährlichste aller Triebkräfte sei.

Info

Maiwald Oliver Diggelmann Klöpfer & Meyer 2017, 252 S., 20 €

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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