Babylon Berlin

Puls Kerstin Ehmer ist Fotografin und betreibt die legendäre Victoria Bar. Ihr Debüt „Der weiße Affe“ überzeugt auch sprachlich
Ausgabe 45/2017

Als echten Hauptstadt-Moloch kann man sich das von pampig-direkt kommunizierenden, zugezogenen und noch ein paar orijinalen Bewohnern bevölkerte Berlin nicht unbedingt vorstellen. Zu sehr weht der Hauch von Hipster-Spießertum durch die von Hunden (heutzutage schon seltener) zugekackten Straßen. Grund genug, auf die goldenen Zeiten des Stadtmolochs zurückzuschauen, direkt in das schmutzige, dreckige, stinkende Stadtherz. Das Berlin der Weimarer Republik also. Noch rauschen die Roaring Twenties, aber schon wird das politische Unheil am Horizont sichtbar. Rechte Schlägertrupps, linke Revolutionäre, kulturelle Reinerhaltungsfantasien ewiger Germanen und jüdisch geprägte Sexualwissenschaft: Was für eine Mischung!

In ihrem Krimidebüt Der weiße Affe lässt Kerstin Ehmer ihren Kommissar Ariel Spiro aus Wittenberge in die Großstadt anreisen, wo er sogleich einen heiklen Fall bearbeiten muss: Der jüdische Bankier Eduard Fromm wird ermordet in einem Hinterhaus aufgefunden. Der Besuch bei seiner walkürenhaften Geliebten ist ihm zum Verhängnis geworden. Hat ihr Verlobter aus dem Berliner Kriminellenmilieu dem Bankiersleben ein Ende bereitet? Geht es gar um politische Motive? Haben die betrogene Ehefrau oder der Sohn des Bankiers einen Grund, den Mann zu ermorden?

Kerstin Ehmer erzählt die Story in einem mitreißenden Sprachflow. Das maulig-mäkelige Berlinern mischt sich mit Einsprengseln schlesischen Dialekts hier und jiddischem Vokabular dort. Der Kommissar ermittelt schließlich in jüdischen Kreisen. Die bunten Partynächte, der Müll, die Stadt und der Tod wirken lebendig und flirrend.

Dieser Berlin-Beat kommt uns natürlich bekannt vor. Sofort hat man Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz im Ohr. Manche Szene sind mit so viel Liebe zum Detail geschildert, dass man ganz verzückt ist: das Knistern des getrockneten Tabaks im Wind, der beißende Geruch auskochender Windeln auf dem Herd. Das geschilderte Berlin lebt und atmet. Manchmal stinkt es auch.

Man merkt Kerstin Ehmer den Genuss an, mit dem sie über die üppigen Damen und schmutzigen Kinder und grantigen Kommissare schreibt. Die Autorin wählt zudem einen sprachlich interessanten, für einen Krimi eher ungewöhnlichen Erzähler, das ist ein innerer Monolog, der Kommissar Spiro bis in die Körperregungen hinein nachspürt, der sich dann mit einem distanzierteren, allwissenden Erzähler abwechselt.

Eingefleischte Leser von Hilary Mantels Historienromanen werden sich ab und an an ihren Prosastil erinnert fühlen. Dabei verblassen die Dialoge dann aber etwas neben den vibrierenden Stadtbildern. Und besonders die Familie des verstorbenen Bankiers Fromm redet reichlich gestelzt. Bildung hin oder her, so redet keiner im Alltag, denkt man sich. Überhaupt stehen die lebhaften Milieuschilderungen mit ihren schillernden Charakteren in einem eigentümlichen Gegensatz zu der alles in allem etwas papieren wirkenden Bankiersfamilie, die noch dazu mit jedem ihrer Charaktere eine bestimmte Mentalität verkörpern muss: Die empfindsame, melancholische Pianisten-Mutter aus dem Schtetl, der überkompensierende Vater, der schwule, dandyhafte, koksende Sohn und die medizinstudierende, emanzipierte Tochter – von allem ist etwas dabei. Das ist reichlich viel Psychodynamik für eine einzige Familienaufstellung, und selbst Freud persönlich hätte arg zu knabbern gehabt an so viel Kernfamilienneurose.

Dass der Kommissar selbst vielleicht Jude ist, vielleicht auch nicht, jedenfalls einen jüdisch klingenden Namen hat, hilft ihm bei den Ermittlungen, erscheint aber für die Krimihandlung gar nicht so relevant. Zwischen Selbstfindung und rasch entflammter Liebe zur Bankierstochter geraten dem Kommissar und dem Text die Ermittlungen zwischenzeitlich aus dem Auge. Erst ein zweiter Mord bringt Dynamik ins Geschehen und löst zugleich das Rätsel um die parallel zur Handlung eingeflochtenen, surreal anmutenden Szenen um einen Jungen namens Alexander.

Lüsternes Porzellan

Nicht weniger rätselhaft wirkt der weiße Affe, das titelgebende Dingsymbol. Der Affe wird bei der Geliebten des Bankiers gefunden und hat, natürlich, eine Back-Story: Es handelt sich womöglich um sogenanntes „Judenporzellan“, das Juden gemäß eines Erlasses Friedrichs des II. in Gegenleistung für den Erhalt bestimmter Privilegien erwerben mussten. Dieser weiße Affe soll gar Moses Mendelssohn persönlich gehört haben. Nach dem Tod des Bankiers soll das Tierchen, dem die Kunstgeschichte Lüsternheit und Eitelkeit andichtet, von der Walküren-Geliebten an die Tochter Nike übergeben werden. König Ödipus lässt grüßen ...

Ein eigentümlicher Kriminalroman ist das, der die Regeln des Genres mixt wie einen ziemlich guten Cocktail, und im Gegensatz zu vielen anderen Krimis auch sprachlich überzeugt. Ein spannendes Debüt einer Autorin, die selbst seit Jahren die legendäre Victoria Bar in der immer noch verruchten Potsdamer Straße in Berlin betreibt. Die Bar wird, so darf man vermuten, auch zukünftig bunte, flirrende Milieubeobachtungen liefern.

Info

Der weiße Affe Kerstin Ehmer Pendragon 2017, 280 S., 17 €

Die Bilder des Spezials

Terje Abusdal lebt und arbeitet in Oslo. Für seine Reihe Slash & Burn erhielt der 1978 im norwegischen Evje geborene Fotograf den renommierten Leica Oskar Barnack Award.

2014 studierte er in Aarhus an der Dänischen Schule für Medien und Journalismus und besuchte anschließend mehrere Meisterklassen. 2015 veröffentlichte er sein erstes Fotobuch Radius 500 Metres. In seinen Arbeiten, die in Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen sind, widmet er sich vor allem den Themen Identität und Migration. Die Reihe Slash & Burn entwickelte sich zu einem Langzeitprojekt. Was bedeuten Tradition und Mystik? Wann gehört man zu einem Land, zu einer Gruppe? In Slash & Burn gelingt Terje Abusdal eine magische Annäherung an die Waldfinnen, eine historische naturverbundende Volksgruppe in Skandinavien. Bei ihnen sei „ganz unabhängig von deinem ethnischen Ursprung – das Kriterium der Zugehörigkeit eindeutig: Man spürt es einfach“. Die Bilder aus Slash & Burn erscheinen 2018 im Kehrer Verlag. Im Internet findet man Zugang zuseinem Werk unter: www.terjeabusdal.com

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Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

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