Ein Provisorium, das die Zeiten überdauert, ist ein Widerspruch in sich. Genau das aber sind die Behelfsheime, die noch während des Zweiten Weltkrieges hunderttausendfach errichtet wurden und in Teilen bis heute erhalten sind. Noch. Denn den Überresten dieser Bauform, die aus der Not geboren wurde, aber erstaunliches Durchhaltevermögen beweist, droht der Abriss. Das Fotobuch Behelfsheim von Enver Hirsch und Philipp Meuser ist deshalb nicht nur eine Dokumentation dessen, was da ist, sondern vor allem dessen, was bald nicht mehr existent sein wird.
Das Buch liefert noch mehr: Es versucht sich an einer architekturgeschichtlichen Einordnung der Behelfsbauten und es enthält ein absurdes kleines Theaterstück, in dem die Interessenvertreter im Streit um das Bleiberecht zu Wort kommen – zuletzt auch das personifizierte Behelfsheim.
Das Fotobuch zeigt 1960er-Jahre-Tapeten, Stützbalken, die gerade so eine Dachkonstruktion halten, absackende Gebäudehälften und verwitterte Linoleumböden. Das Behelfsmäßige umweht die Räumlichkeiten auch nach Jahrzehnten; zugleich sind nur noch hier und da Spuren von Heimeligkeit erhalten, denn die Heime sind menschenleer. Eigentlich glaubt man, alte, verlassene Gartenlauben zu betrachten. Ganz trügt der Eindruck nicht, denn die dokumentierten Behelfsheime sind der Laube nicht unähnlich, sind sozusagen Träger ihrer DNS, und befinden sich obendrein auch in unmittelbarer Nähe bestehender Schrebergartensiedlungen.
Bei genauerem Hinsehen offenbaren sich trotz all der hübsch gerahmten Spießigkeit, den kleinbürgerlichen Vorstellungen von Behaglichkeit, Spuren geradezu radikaler Anarchie: Mal ist die Steckdose kurzerhand um 45 Grad eingedreht, mal erscheint der Boden in erstaunlicher Schieflage. Hier haben Menschen Hand angelegt, denen streckenweise die Fachkenntnis für ihr Vorhaben abging, dies allerdings mit reichlich Enthusiasmus und Improvisationstalent auszugleichen wussten. „Das guckt sich weg“, lautet ja einer der beliebten Sprüche deutscher Hobbyhandwerker. Es ist gewissermaßen der Leitgedanke des Behelfsheims. Womöglich wurzelt die Liebe des Deutschen zum dilettantischen Heimwerken in eben diesen Bauten, und damit in der Noch- und Nachkriegszeit.
Laien sollten selbst bauen
Als nach den Bombardements durch die Alliierten in kurzer Zeit Hunderttausende Menschen wohnungslos wurden, sollte das eilig gegründete Deutsche Wohnungshilfswerk Unterkünfte für eine Dreiviertelmillion Menschen schaffen. Doch es fehlte an Handwerkern und Materialien – beide wurden in einem beispiellosen Krieg durch die Nationalsozialisten verheizt. Reichswohnungskommissar Robert Ley schuf daraufhin die Grundlage für die Errichtung Zehntausender Behelfsheime. Das also wäre die mRNA des Behelfsheimes: Nationalsozialistische „Bodenpolitik“ stellte den Grund für die zu errichtenden Bauten. Beinahe radikal erscheint aus heutiger Sicht, dass die Gebäude im Besitz der Bauherren verbleiben durften, obwohl der Boden ihnen nicht gehörte. Zwar sollten die Heime Provisorien bleiben; ihre spätere Umnutzung als Lauben, Garagen und dergleichen war aber durchaus vorgesehen.
Das Deutsche Wohnungshilfswerk erstellte eine Broschüre, die eine detaillierte Bauanleitung lieferte. Sie sollte Menschen ohne besondere Fachkenntnisse in die Lage versetzen, ihre Heime selbst zu errichten. Sie enthält unter anderem Anleitungen für die Konstruktion unterschiedlicher Dachformen. Die Nationalsozialisten bevorzugten ideologisch übrigens spitze Satteldächer; die wesentlich einfacher zu konstruierenden Pultdächer, noch dazu Hitlers Favoriten, setzten sich durch. Wer hätte gedacht, dass Dächer ideologisch sein können? Mit den teils nachträglich angefügten Fachwerkfassaden offenbaren die Behelfsheime Spuren deutscher Behaglichkeitsvorstellungen. Man sieht das Bemühen der Bewohner, den historischen Entstehungskontext zu verschleiern.
Heute werfen die Behelfsheime, über ihre Ästhetik hinaus, kontroverse Fragen auf. Sollen sie kurzerhand abgerissen werden und neuen Wohnungsbauprojekten Platz machen? Schließlich ist bebaubarer Boden rar und teuer. Macht es Sinn, winzige Häuschen auf wertvollem Boden am Rande der dichtbebauten Städte für winzige Einfamilienhäuschen zu verschwenden? Gleichzeitig ist das zugrunde liegende Bodennutzkonzept ein spannendes Zukunftsmodell. Denn wie beim Schrebergarten geht der Boden selbst nicht in den Besitz der Bauherren über. Der Boden bleibt Allgemeinbesitz.
Und sind die Büdchen nicht Tiny Houses, die derzeit ja wieder gerne von Architekten als alternative Wohnmodelle propagiert werden? Sind sie nicht allemal authentischer als die aufpolierten, wie aus Standardkatalogen reproduzierten Straßenzüge zeitgenössischer Machart – bodentiefe Fenster, irgendwas mit Bauhausfensterband plus große Dachterrasse für die, die es sich leisten können?
Die Behelfsheime sind ästhetische Guerilla, Heime mit Persönlichkeit. Zum Glück werden sie in diesem Fotobuch für Gegenwart und Nachwelt erhalten.
Info
Behelfsheim Enver Hirsch, Philipp Meuser Eigenverlag 2020, 35 €, behelfsheim.com
Kommentare 5
wie "luftkriegsbetroffene" zu "behelfsheimern" werden sollten,
erklärt der wiki-artikel:
--->"deutsches Wohnungshilfswerk" nazi-kürzel: DWH.
"Das Fotobuch Behelfsheim von Enver Hirsch und Philipp Meuser ist deshalb nicht nur eine Dokumentation dessen, was da ist, sondern vor allem dessen, was bald nicht mehr existent sein wird."
Ein Satz von elementarer Wucht und einer tiefen Wahrheit.
es sei denn, man sieht im platten-bau die fortsezung des
behelfs-heim-wohnungs-hilfs-werks...
der war aber nicht dem terror-bombardement des kriegs-feindes,
sondern dem klassen-kampf gegen die haus-besitzer-klasse,
mit ihren ruinösen folgen, geschuldet...
Ich weiß ja nicht, ob Hirsch / Meuser diese "Architektur" tatsächlich so nett und anheimelnd und also bewahrenswert finden, wie das in dieser Besprechung ihres Fotobuchs klingt. Wirkt da noch die Art volksgemeinschaftliche Euphorie ein bisschen nach, die in der "Nochkriegszeit" solche NS-Kampagnen wie "Winterhilfswerk", "Volkswohlfahrt" oder das erwähnte DWH usw. begleitet haben? Na, sicher nicht. Es kann aber eben so scheinen, wenn man solch ein ganz offensichtlich historisch konkret verortetbares Thema hauptsächlich oberflächlich ästhetisierend abhandelt.
Die Autoren des besprochenen Buches - davon gehe ich mal aus - werden es nicht versäumt haben, z.B. darauf hinzuweisen, dass im Zuge dieser "Wohnhilfswerk"-Kampagne die nötigen Arbeitskräfte auch aus Konzentrationslagern beschafft wurden, und dass die Behelfsheimbezieher mancherorts ein verbrieftes Vorkaufsrecht auf Möbel und Hausrat aus den Hausständen deportierter jüdischer Familien hatten. Oder doch nicht? In dieser Rezension liest man jedenfalls nichts davon.
Diese Bauten sind also ideologisch kontaminiert. Wer sich darob wundert ("Wer hätte gedacht, dass Dächer ideologisch sein können?") hat ganz offensichtlich, ähm, noch keine Erfahrung im Umgang mit Architektur u.dgl.m..
Die i.G. anti-moderne Idealisierung dilettantischen Bauens hat sich nicht so viele Jahre später in den Konzepten eines Friedensreich Hundertwasser fortgesetzt. Sein "Verschimmelungsmanifest" erschien 1958 und klingt, als hätte er selbst als Halbwüchsiger (Jg. 1928) seine ersten Bauerfahrungen mit Nazi-Behelfsheimen in Österreich gemacht. Sein (auch schon bei den Nazis vorhandener) manischer Hass auf das moderne Bauen hat ihn hier Sätze wie diese schreiben lassen: "Man soll den Baugelüsten des Einzelnen keine Hemmungen auferlegen! Jeder soll bauen können und bauen müssen und so die wirkliche Verantwortung tragen für die vier Wände, in denen er wohnt. Und man muß das Risiko mit in Kauf nehmen, daß so ein tolles Gebilde nachher zusammenfällt, und man soll und darf sich vor Menschenopfern nicht scheuen, die diese neue Bauweise erfordert..." Das kann man natürlich mit der Rezensentin "radikalen Anarchismus" nennen. Jede gute Anarchistin wäre allerdings empört ob des Missbrauchs dieses Begriffs.
Hundertwasser hat die von Marlen Hobrack anscheinend auch ziemlich geschätzte Ästhetik "authentischen" Dilletantismus hauptsächlich auf die Fassaden bezogen, dabei die potenziell gesundheitsschädliche Wirkung des laienhaften Bauens in der Statik in Kauf nehmend. Seine hochmütige Menschenverachtung geht aber noch weiter: "Die materielle Unbewohnbarkeit der Elendsviertel ist der moralischen Unbewohnbarkeit der funktionellen, nützlichen Architektur vorzuziehen. In den sogenannten Elendsvierteln kann nur der Körper des Menschen zugrundegehen, doch in der angeblich für den Menschen geplanten Architektur geht seine Seele zugrunde." Es ist also nicht so wichtig, sogar der Seele schadend, wenn professionell stabil, klimatisch gesund und energieeffizient gebaut wird. Wichtiger ist die dilettantische individuelle Ästhetisierung.
Die "Behelfsheime" sind feuchtklamme Schimmelsporen-Biotope. Bei all den später noch "heimwerkelnd" hinzugefügten Kunststoffpanelen und Plastikbodenbelägen gehört ein anheimelndes Gemisch von Luft und Ethylbenzol- oder Styrolausdünstungen dazu. Da realisiert sich Hundertwassers Verschimmelungsmanifest wortwörtlich.
Weg mit dem Scheiß.