Das guckt sich weg

Zeugen In der Noch- und Nachkriegszeit entstanden Hunderttausende „Behelfsheime“. Ein Fotoband verewigt die Überreste dieser Bauform, der endgültig der Abriss droht
Ausgabe 49/2020

Ein Provisorium, das die Zeiten überdauert, ist ein Widerspruch in sich. Genau das aber sind die Behelfsheime, die noch während des Zweiten Weltkrieges hunderttausendfach errichtet wurden und in Teilen bis heute erhalten sind. Noch. Denn den Überresten dieser Bauform, die aus der Not geboren wurde, aber erstaunliches Durchhaltevermögen beweist, droht der Abriss. Das Fotobuch Behelfsheim von Enver Hirsch und Philipp Meuser ist deshalb nicht nur eine Dokumentation dessen, was da ist, sondern vor allem dessen, was bald nicht mehr existent sein wird.

Das Buch liefert noch mehr: Es versucht sich an einer architekturgeschichtlichen Einordnung der Behelfsbauten und es enthält ein absurdes kleines Theaterstück, in dem die Interessenvertreter im Streit um das Bleiberecht zu Wort kommen – zuletzt auch das personifizierte Behelfsheim.

Das Fotobuch zeigt 1960er-Jahre-Tapeten, Stützbalken, die gerade so eine Dachkonstruktion halten, absackende Gebäudehälften und verwitterte Linoleumböden. Das Behelfsmäßige umweht die Räumlichkeiten auch nach Jahrzehnten; zugleich sind nur noch hier und da Spuren von Heimeligkeit erhalten, denn die Heime sind menschenleer. Eigentlich glaubt man, alte, verlassene Gartenlauben zu betrachten. Ganz trügt der Eindruck nicht, denn die dokumentierten Behelfsheime sind der Laube nicht unähnlich, sind sozusagen Träger ihrer DNS, und befinden sich obendrein auch in unmittelbarer Nähe bestehender Schrebergartensiedlungen.

Bei genauerem Hinsehen offenbaren sich trotz all der hübsch gerahmten Spießigkeit, den kleinbürgerlichen Vorstellungen von Behaglichkeit, Spuren geradezu radikaler Anarchie: Mal ist die Steckdose kurzerhand um 45 Grad eingedreht, mal erscheint der Boden in erstaunlicher Schieflage. Hier haben Menschen Hand angelegt, denen streckenweise die Fachkenntnis für ihr Vorhaben abging, dies allerdings mit reichlich Enthusiasmus und Improvisationstalent auszugleichen wussten. „Das guckt sich weg“, lautet ja einer der beliebten Sprüche deutscher Hobbyhandwerker. Es ist gewissermaßen der Leitgedanke des Behelfsheims. Womöglich wurzelt die Liebe des Deutschen zum dilettantischen Heimwerken in eben diesen Bauten, und damit in der Noch- und Nachkriegszeit.

Laien sollten selbst bauen

Als nach den Bombardements durch die Alliierten in kurzer Zeit Hunderttausende Menschen wohnungslos wurden, sollte das eilig gegründete Deutsche Wohnungshilfswerk Unterkünfte für eine Dreiviertelmillion Menschen schaffen. Doch es fehlte an Handwerkern und Materialien – beide wurden in einem beispiellosen Krieg durch die Nationalsozialisten verheizt. Reichswohnungskommissar Robert Ley schuf daraufhin die Grundlage für die Errichtung Zehntausender Behelfsheime. Das also wäre die mRNA des Behelfsheimes: Nationalsozialistische „Bodenpolitik“ stellte den Grund für die zu errichtenden Bauten. Beinahe radikal erscheint aus heutiger Sicht, dass die Gebäude im Besitz der Bauherren verbleiben durften, obwohl der Boden ihnen nicht gehörte. Zwar sollten die Heime Provisorien bleiben; ihre spätere Umnutzung als Lauben, Garagen und dergleichen war aber durchaus vorgesehen.

Das Deutsche Wohnungshilfswerk erstellte eine Broschüre, die eine detaillierte Bauanleitung lieferte. Sie sollte Menschen ohne besondere Fachkenntnisse in die Lage versetzen, ihre Heime selbst zu errichten. Sie enthält unter anderem Anleitungen für die Konstruktion unterschiedlicher Dachformen. Die Nationalsozialisten bevorzugten ideologisch übrigens spitze Satteldächer; die wesentlich einfacher zu konstruierenden Pultdächer, noch dazu Hitlers Favoriten, setzten sich durch. Wer hätte gedacht, dass Dächer ideologisch sein können? Mit den teils nachträglich angefügten Fachwerkfassaden offenbaren die Behelfsheime Spuren deutscher Behaglichkeitsvorstellungen. Man sieht das Bemühen der Bewohner, den historischen Entstehungskontext zu verschleiern.

Heute werfen die Behelfsheime, über ihre Ästhetik hinaus, kontroverse Fragen auf. Sollen sie kurzerhand abgerissen werden und neuen Wohnungsbauprojekten Platz machen? Schließlich ist bebaubarer Boden rar und teuer. Macht es Sinn, winzige Häuschen auf wertvollem Boden am Rande der dichtbebauten Städte für winzige Einfamilienhäuschen zu verschwenden? Gleichzeitig ist das zugrunde liegende Bodennutzkonzept ein spannendes Zukunftsmodell. Denn wie beim Schrebergarten geht der Boden selbst nicht in den Besitz der Bauherren über. Der Boden bleibt Allgemeinbesitz.

Und sind die Büdchen nicht Tiny Houses, die derzeit ja wieder gerne von Architekten als alternative Wohnmodelle propagiert werden? Sind sie nicht allemal authentischer als die aufpolierten, wie aus Standardkatalogen reproduzierten Straßenzüge zeitgenössischer Machart – bodentiefe Fenster, irgendwas mit Bauhausfensterband plus große Dachterrasse für die, die es sich leisten können?

Die Behelfsheime sind ästhetische Guerilla, Heime mit Persönlichkeit. Zum Glück werden sie in diesem Fotobuch für Gegenwart und Nachwelt erhalten.

Info

Behelfsheim Enver Hirsch, Philipp Meuser Eigenverlag 2020, 35 €, behelfsheim.com

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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