Möglicherweise hat Nele Pollatschek an den ersten Satz aus Anna Karenina gedacht, als sie an ihrem Roman Das Unglück anderer Leute arbeitete: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich.“ Wobei man fragen muss, ob Tolstoi tatsächlich recht hat: Sind alle unglücklichen Familien auf ihre Art unglücklich? Oder gibt es doch nur eine Art des familiären Unglücks?
Das Unglück beginnt ja meist schon damit, dass man überhaupt eine Familie hat, siehe Nele Pollatschek. Dabei ist Thene, die 25-jährige Protagonistin aus ihrem Debütroman, familienmäßig gewissermaßen mehrfach vom Schicksal geschlagen: Da wären nicht nur die manipulative Borderline-Mutter sowie deren stetig wechselnde Liebhaber und abgelegte Ehemänner, sondern auch noch Thenes jüdische Großmutter, ihr schwuler Vater und seine bisexuelle, bipolare Mutter. Außerdem: zwei Halbgeschwister.
Das ist schon mehr Familie, als es die meisten Menschen ertragen können. Thene erträgt ihr Schicksal beinahe stoisch, Gott sei Dank kann man irgendwann aus dem engen familiären Zusammenhang fliehen (oder doch nicht?). Jedenfalls hat Thene eine Gegenwelt, das Stückchen Normalität, das sie mit ihrem Freund im Odenwald teilt: Der Wald ist ihr ein idyllischer Fluchtpunkt fernab von der zivilisatorischen Bürde der erweiterten Patchworkfamilie. Die Liebenden kehren ein in die Waldeinsamkeit.
Weil sie es können
Außerdem wäre da noch das Studium in Oxford, auch das eine Fluchtmöglichkeit. Aber dann kommt ihr der Masterabschluss in die Quere, natürlich möchte die ganze verrückte Mischpoke mit ihr feiern. Mutter, Vater, Großmutter, alle reisen nach England. Thene, ihr Vater Georg und die Großmutter müssen die Mutter vom Flughafen Heathrow abholen, und hier schon beginnt der Ärger, denn alle sind sich einig, dass die Mutter den Weg von London nach Oxford allein hätte meistern können. Und dass sie allen das Leben nur deshalb schwermacht, weil sie’s eben kann. Schon die Eingangsszene im Flugzeug, in der Großmutter und Enkelin über die verkorkste Mutter diskutieren, während die vom Selbstbräuner orange gefärbte Easyjet-Stewardess die Fluggäste zur Ruhe mahnt, ist köstlich. Köstlich für jeden, der eine Mutter hat. Oder eine neurotische Mutter-Kind-Beziehung. Und wer hat sie nicht?
Die Eingangsszene ist aber letztlich nur der Ausgangspunkt für eine Romanhandlung, die immer schriller wird und immer ekstatischer eine Familienkatastrophe nach der anderen erzählt. Müssen die neurotischen Mütter eigentlich immer jüdisch sein?, fragt man sich kurz. Es gibt doch auch nicht jüdische neurotische Mütter. Nun, in diesem Roman, in dem Thene im Verlauf der Geschichte mehr und mehr zum Hiob (oder zur Hiobine) wird, ist es vielleicht nur zwangsläufig. Weil hinter der tragisch-komischen Familiengeschichte immer mal wieder der strafende Gott des Alten Testamentes aufblitzt und Thene alles, aber auch wirklich alles nimmt. Aus Prinzip, weil er’s eben kann. Göttliche und mütterliche Willkür sind letztlich eins. Diese Willkür wird noch übertroffen von der erzählerischen Willkür der Autorin, die immer dicker aufträgt, bis man sich schließlich die Augen reibt: Meint sie das ernst? Natürlich spielt sie mit uns, und noch dazu ganz famos. Nele Pollatscheks Sprache hat dabei eine Leichtigkeit, die nie seicht wird. Alles fließt, und der Leser ist hingerissen.
Warum so belehrend?
Manchmal ist Thenes Mutter ganz das jüdische Mammele aus dem Klischee: reichlich mit Schuldgefühlen manipulierend. Es gibt eine Szene mit Mutter und Tochter im Auto, die Mutter keift und ereifert sich, überschüttet Thene mit Vorwürfen, und die stopft sich die ausgestreckten Mittelfinger in die Ohren. Ja, man leidet mit Thene und hört sie förmlich, die Vorwürfe. Das dreimal beschworene „Ich hasse sie!“ steht dann auch gleich am Anfang des Texts. Und plötzlich stirbt diese hochneurotische Übermutter, und nicht nur die Erzählerin fragt sich: Traum? Wirklichkeit? Wunscherfüllung im Freud’schen Sinne?
Natürlich macht man sich zwischenzeitlich Sorgen, ob das nicht alles ein bisschen zu viel ist. Thenes Stiefvater zum Beispiel, der der Cousin der Mutter ist, sich in den jüdisch-orthodoxen Glauben flüchtet und nun Menachem ist, aber für den Bruch des Inzesttabus im Stile des guten alten Ödipus die göttliche Strafe tragen muss (er kann keine Kinder mit seiner neuen Frau zeugen). Die Figur, deren tragisches Potenzial am größten wäre, die Holocaust und Krebs überlebende Großmutter, ist die sympathischste, sieht man einmal von ihrem notorischen Nacktsonnenbaden ab. Aber das hat ja noch keinen umgebracht (nun ja, in diesem Fall stimmt das nicht ganz).
Wer ist eigentlich diese Autorin, die so wunderbar von kleinen und großen Katastrophen erzählen kann? Eine gewisse Ähnlichkeit hat sie schon mit ihrer Ich-Erzählerin, auch Nele Pollatschek ist gerade mal 28 Jahre alt, hat in Oxford studiert und lebt im Odenwald. Aber man würde gern genau wissen, ob der familiäre Wahnsinn nur freudig herbeiformuliert ist.
Jedenfalls merkt man bald, dass die Autorin in der Hoch- und Popkultur bewandert ist. Und so finden wir auf jeder Seite literarisches Namedropping, Marx und Shakespeare fliegen uns um die Ohren, und Freud quillt zwischen den Seiten hervor. Vor allem wenn sich Thene mit ihrem 15-jährigen Bruder über Literaturgeschichte und Wahrscheinlichkeitstheorie unterhält, sprudeln die Anspielungen nur so. Was die Autorin aber dem Teenager Eli zutraut – beispielsweise das Fachsimpeln über Tom Stoppard und Kurt Vonnegut –, traut sie den Lesern nicht zu, weswegen die Erzählerin vorsichtshalber erläutert, was es mit den Namen auf sich hat.
Auch die Star-Trek-Insidergags werden erläutert für diejenigen, die nicht wissen, dass die namenlosen Rotuniformen immer, wirklich immer sterben müssen (so wie die Storm Trooper in Star Wars niemals, wirklich niemals treffen). Sogar der Ausdruck „Facepalm“ wird schließlich übersetzt. Dabei wäre es ja kein Verlust, wenn ein Leser nun nicht wüsste, was ein Facepalm ist. Das verzeiht man dem Text aber gern. Am Ende kann man sich eigentlich nur die Frage stellen, die auch Eli an seine Schwester richtet: Warum ist die eigene Familie eigentlich so bekloppt? Schicksal, Zufall, egal. Nie war das Unglück anderer Leute unterhaltsamer.
Info
Das Unglück anderer Leute Nele Pollatschek Galiani 2016, 224 S., 18,99 €
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