Für Spatzen

Schule Endlich gibt es ein Buch für eine Kanondebatte! Und jetzt zum Wetter
Ausgabe 36/2018

Der Kanon hat Konjunktur! Soeben präsentierte die Autorin Sibylle Berg gemeinsam mit anderen einen explizit weiblichen Kanon als Gegenentwurf zu dem so männlich geprägten der Gegenwart. Zeitgleich legt der Journalist Thomas Kerstan einen Entwurf für einen Kanon vor, der sich obendrein in die Bildungsdebatte einschreibt: Was unsere Kinder wissen müssen lautet der forsche Titel. Diese Kanon-Konjunktur ist auf den ersten Blick bemerkenswert, auf den zweiten aber allzu verständlich: Für ein Land, das sich permanent in der Frage verheddert, was denn nun seine kulturelle Identität ausmacht, erscheint die Diskussion kanonischer, für die Kultur unbedingt bedeutsamer Werke nur folgerichtig. Man umschifft die schwierige Vokabel „Leitkultur“, die – so sie denn jemand provokativ säuselt – sogleich heftiges Schnaufen verursacht.

Da-da-da-daaaa! Beethoven

Ein Kanon ist ja überhaupt nur deshalb von Bedeutung, weil das, was er als unbedingt lesens- und wissenswert empfiehlt, in aller Regel eben nicht gelesen und gewusst wird. Aus dieser Aporie speist sich das ganze Gewese um kanonische Empfehlungen. Thomas Kerstan, Zeit-Autor und Herausgeber von Zeit Campus, richtet sich mit seinem Kanon-Entwurf explizit an Lehrer sowie Schüler und fragt grundsätzlich: Was sollte ein junger Mensch wissen, wenn er die Schule verlässt? Welche Allgemeinbildung brauchen junge Menschen, um sich den Fragen und Problemen von Gegenwart und Zukunft stellen zu können?

Kerstan gliedert seinen Kanon mit einhundert ausgewählten Werken in vier Kategorien: den künstlerisch-ästhetischen, sprachlich-kommunikativen, historisch-philosophischen sowie mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltzugang. Wir begegnen da Vincis Mona Lisa und Beethovens 9. Sinfonie, kurz: Über weite Strecken hinweg keine Überraschungen, denn die ausgewählten Werke sind wie die La Giaconda oder Botticellis Venus durch ungezählte Reproduktionen ein wenig verbraucht, um es milde auszudrücken.

Hier setzt vielleicht das erste Problem mit kanonischen Texten ein, die Behauptung nämlich, ihnen hafte eine überzeitliche und damit universelle Qualität an. Jedes Werk trägt einen Zeitstempel, wird erst möglich durch die Formen von Wissen, die in seiner Zeit zirkulieren. Bachs Weihnachtsoratorium ist zu allen Zeiten ein Hörgenuss, aber seine Bedeutung ist in einem Land, in dem die Mehrzahl der Menschen ein anderes Verhältnis zum Glauben entwickelt hat, eben nicht dieselbe wie vor dreihundert Jahren.

Bei vielen der Werke bekommt die Kultur- und Medienwissenschaftlerin, die ich nun mal bin, gehörig Bauchschmerzen: Weil an die Seite der Kanonisierung die Musealisierung getreten ist. Wie einsame Ikonen künstlerischen Ingeniums stehen sie auf den Sockeln, werden Jugendlichen in tristen Klassenzimmern dargeboten, wo sich gewiss nie die Wirkung einer Live-Musik- oder Theateraufführung einstellen wird. Ganz praktisch wird das zum Problem für Jugendliche, die in Form von Lessings Nathan oder Schillers Räubern erstmals ein Werk in Händen halten, das nur aus Dialogen und knappen Regieanweisungen besteht, sich also in ihrer Fantasie zu einem Stück entfalten muss.

Da hatten es Schillers Zeitgenossen einfacher, die sich die Stücke in ihrer Aufführungspraxis anschauen konnten. Darüber hinaus erfüllten die Stücke natürlich eine Funktion für das sich formierende Bürgertum, die über ästhetischen Genuss oder gar Wissensakkumulation hinausreichte. Mit anderen Worten: Unsere Musealisierung und die Behauptung universeller Bedeutsamkeit eines Werkes löst es so vollständig aus seinem historischen und medialen Kontext, dass seine genuine Wirkung sich überhaupt nicht mehr entfalten kann.

In diesem Sinne möchte ich eine ganz radikale Wendung in Bezug auf schulische Kanons vorschlagen: Weg mit dem Alten, her mit dem Neuen! Her mit den zeitgenössischen Werken, die fundamentale Fragen der Gegenwart aufgreifen. Und wenn denn schon eine Rückwendung auf die Klassiker der Literatur, Kunst oder Wissenschaft, dann mit weniger Ehrfurcht und Respekt.

Erste Frau entdeckt! Seite 139

Vielleicht müsste man einem Karl May den Vorzug vor Goethe geben, nicht seiner literarischen Qualität wegen, sondern weil seine im Knast erdichtete Indianer-Kultur einen sehr europäischen Zugang zu anderen Kulturen lebendig vor Augen führt. Vielleicht sollte man Kleists Zerbrochenen Krug streichen und stattdessen seine Penthesilea lesen, die den Konflikt zwischen Individuum und gesellschaftlicher Ordnung sowie den von erotischen Verwirrungen durchzogenen Geschlechterkampf martialisch vor Augen führt.

Apropos Geschlechter: Jeder Kanon produziert Ausschließungen. Umso schwerwiegender ist der eklatante Mangel an Frauen in Kerstans Liste. Erst auf Seite 139 begegnet uns die erste Frau, Emine Sevgi Özdamar, die zugleich für migrantisch geprägte Literatur steht. Zwei Fliegen mit einer Klappe also. Dass Ingeborg Bachmann und Else Lasker-Schüler, Annette von Droste-Hülshoff oder Anna Seghers, Virginia Woolf oder Jane Austen nichts Wissenswertes für unsere Kinder beigesteuert haben sollen, möchte man so einfach nicht durchgehen lassen. Man kann vermuten, dass das alte Vorurteil gegen Werke von Frauen wirksam wurde: dass sie Fundamentales über das Frausein formulieren, nicht aber über das Menschsein, wie man es den männlichen Kollegen so gerne attestiert. Kerstan übrigens entschuldigt das Frauendefizit mit dem historischen Fehlen in Wissenschaft und Kunst. Vielleicht hätte ihn Kollegin Sibylle Berg eines Besseren belehren können.

Info

Was unsere Kinder wissen müssen: Ein Kanon für das 21. Jahrhundert Thomas Kerstan Edition Körber 2018, 256 S., 20 €

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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