Ihr seid alle so basic!

Social Media Der gemeinnützige Gastspielort Lofft in Leipzig zeigt die dumme weite Welt des Internets
Ausgabe 47/2018

Wie bringt man den Social-Media-Fetisch der Authentizität auf die Bühne? Zum Beispiel so: vier Videowände, ein roter Teppich und dazwischen eine Wand. Wir sehen einen Mund, der sich bei Dunkelheit in eine Vulva verwandelt; einen Muttermund, der schwanger geht mit dem Kind des digitalen Zeitalters. Die personifizierten 80er sind seine Eltern. Sie produzieren den Heiland, die Heilandin – Alice im Wund-Air-Land. Alice soll retten, was längst verloren ist.

Im Stück sucht Moderatorin Kleidi Hum den Supervlogger. Das Publikum darf mittels einer Votingapp entscheiden, wer in die nächste Runde kommt. Wer scheitert, erlebt den Virtual-Reality-Tod, der ein ganz realer Tod ist. „Ich bin ich. Und ich ist schon mal eine Person“, meint Alice, die mit dem Rätsel des Ichseins sichtlich überfordert ist. Das Publikum darf helfen und ihr To-go-Weisheiten via Chip einimpfen.

Alice im Wunderland folgt dem Kaninchen und fällt ins Loch, in eine Gegenwelt, in der alle Regeln auf den Kopf gestellt werden. „We’re all mad here“, sagt die Cheshire Cat. „Wie spät ist es?“, fragen Alices Eltern. Egal! Alice kommt zu spät, das lernen wir ja von dem weißen Kaninchen. Die Welt der Virtual Reality hat die Realität längst ersetzt. Alice wird in eine Welt geboren, in der das Leben eine einzige „Competition“ ist. Alle Erfahrungs- und Erlebnisräume sind virtuell. Der Körper ist präsent nur in den Vloggervideos, immerzu streichelt und zuckt er. Nur so etwas wie Selbstwirksamkeit erleben die Körper, die wie hinter einer Glasscheibe agieren, nicht mehr. Denn das Sprechen zur Community ist ein Sprechen in die ewige Leere der Netzwelt.

Wenn gerade keine Vloggervideos laufen, flimmert Werbung aus dem Internetzeitalter über die Videowände. Dicke shooten im Online-Game oder kaufen Diät-Kotzpillen. Auch Online-Dating ohne lästigen Körperkontakt wird geboten. Zwischendurch Kleidi Hum mit ihrem dauerbeschränkten Mimikrepertoire, das in Endlosschleife betrachtet einem Terror der totalen Wiederholung gleichkommt. Wiederholung als Erlösung: Søren Kierkegaard hatte dabei nicht Heidi Klum vor Augen.

Gehirn im Vollwaschgang

Fallen ihr Vlogger durch mangelnde „Personality“ auf, geht es ihnen an den Kragen. Wie die rote Herzkönigin im Wunderland macht Kleidi Hum sie einen Kopf kürzer. Perfekt ist nur Heidi, und alle anderen Bitches sind allenfalls „basic“.

Die Klum als verrückte Königin ist als Persiflage aber gar nicht so recht wirksam. Sie ist immer schon Groteske. Alles, was man über die verzerrte Welt der Kleidi Hum wissen muss, kann man bei ihrem realen Vorbild ganz offensichtlich sehen. Wie Kleidi alias Heidi und die Vlogger von den Regisseurinnen und Schauspielerinnen Eléna Weiß und Shari Asha Crosson im Lofft in Leipzig auf die Bühne gebracht werden, ist trotzdem, oder gerade deshalb, großartig und unterhaltsam.

Alice ist unser Avatar. Am Ende gewinnt Alice die Competition, wie sollte es anders sein. Ihr Schöpfer hat ihr eine Botschaft fürs Massenpublikum vorbereitet, sie soll sie im Moment des Triumphes vortragen. Alice aber zerreißt den Zettel mit der befreienden Botschaft. Alice, das Subjekt, dem Wort nach unterworfen, dem System, den Medien, der klumhumschen Gehirnwäsche, kann nichts und niemanden retten. Sie ist, zuletzt, aber doch glücklich mit sich selbst.

Info

Bitch Perfect oder Alice im Wund-Air-Land Eléna Weiß, Shari Asha Crosson (Regie), Lofft Leipzig

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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