Das Interesse an der Veranstaltung war so groß, dass sie kurzerhand in den großen Vortragssaal der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek verlegt werden musste: Hier tagte die Konferenz „Kolonie Ost? Aspekte von ‚Kolonialisierung‘ in Ostdeutschland seit 1990“, organisiert vom Dresdner Institut für Kulturstudien. Allein der Titel ist eine Provokation und mutet wie eine identitätspolitische Setzung an: Soziologen, Politik- und Kulturwissenschaftler debattierten auf Podien und mittels Fachbeiträgen über Deutungsmuster der Wiedervereinigung.
Traten die Westdeutschen tatsächlich als Kolonialherren auf? Wie verfestigte sich zuerst das Deutungsmuster vom Kolonialismus, und warum erscheint es beinahe 30 Jahre nach 1990 aktueller denn je?
Augstein vs. Grass
Gemäß der Definition des Historikers Jürgen Osterhammel ist kolonialistisches Denken geprägt von der Vorstellung unversöhnlicher Andersartigkeit und Fremdheit, verbunden mit dem Glauben an Über- und Unterlegenheit der einen oder anderen Gruppe. Hinzu tritt ein Sendungsglaube; das Kolonialregime tritt, an die eigene Überlegenheit glaubend, bevormundend auf. Tatsächlich war ein Leitgedanke der Wendejahre der Glaube an die politische, wirtschaftliche und letztlich kulturelle Überlegenheit des Westens. Das erzeugte einen Diskurs und eine damit verbundene Politik, die Ostdeutsche wie naive Kinder behandelte – keine gute Voraussetzung für eine Einigung auf Augenhöhe. Exemplarisch hierfür mag ein Satz des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein im Streitgespräch mit Günter Grass aus dem Jahre 1990 sein: „Wir könnten sie in Frieden lassen, wenn sie sich selbst regieren könnten – das können sie ersichtlich nicht.“ Er sagte dies 1990, also zu einem Zeitpunkt, als die Bürger der DDR noch keine Chance hatten, sich selbst zu organisieren, weil das Land sich noch immer im Krisenbewältigungsmodus befand. Interessant und verräterisch ist die Formel „Wir könnten sie in Frieden lassen“ – was de facto dem Eingeständnis einer nicht friedlichen Annäherung gleichkommt.
Aber lässt sich dieses Diskursmuster über die ersten Jahre nach dem Mauerfall hinweg belegen? Der Soziologe Raj Kollmorgen stellt in seinem Vortrag das Fortwirken dichotomer Narrative fest – in West und Ost. Damals wie heute wird der Osten als das Andere gedacht, wird medial Fremdheit und Befremden angesichts des Verhaltens Ostdeutscher thematisiert.
Diskurse zeitigen unmittelbare machtpolitische Folgen. Somit ist die Frage, wie der Westen über den Osten spricht oder umgekehrt – und womit dieser Text geradewegs das Muster der Dichotomisierung fortschreibt – und welches Bild sich der Osten von der gesamtdeutschen Geschichte seit 1990 macht, nicht irrelevant.
Die Idee einer Kolonialisierung – so problematisch dieser Begriff auch sein mag, weil er echte Kolonialisierungserfahrungen, die Völkermorde beinhalteten, verniedlicht – scheint auf emotionaler Ebene Identität zu stiften. Man mag es verlachen, aber hier geschieht etwas Ähnliches wie im Falle tatsächlich kolonialisierter Völker, für die die Erinnerung an die Kolonialisierung zu einem identitätsstiftenden Moment wird. Das Gefühl der kulturellen Übernahme formt in all seiner Negativität Gemeinschaft. Eine problematische freilich, weil sie die Identität immer auch in der Opferrolle festschreibt. Für Kulturen, die Völkermord und Verfolgung ausgesetzt waren, mag das nicht überraschen. Ostdeutschland erlebte aber „nur“ kulturelle und wirtschaftliche Vereinnahmung.
Gerade der Aspekt der wirtschaftlichen Vereinnahmung wird in Marcus Böicks Vortrag zur Treuhand deutlich. Auch Böick beschäftigt sich mit den Narrativen, die sich im Kontext der – aus Sicht sowohl Ost- wie Westdeutschlands – als gescheitert zu betrachtenden Treuhandpolitik ergaben. So sollte die „marode“, nicht zukunftsfähige Industrie und Wirtschaft der DDR mithilfe des rheinischen Kapitalismus in eine blühende Zukunft geführt werden. In Ostdeutschland ist die Treuhand bis heute Symbol für den Ausverkauf einer ganzen Wirtschaft an wenige Profiteure im Westen. Böick aber verweist darauf, dass viele ostdeutsche Politiker eine schnelle Abwicklung durch die Treuhand anfangs durchaus begrüßten – sicher in der Hoffnung, man könne einen Schlussstrich unter das Alte ziehen und mit dem Neuen beginnen. Erst mit dem Hungerstreik der Kali-Kumpel in Bischofferode verfestigt sich das Ost-West-Narrativ vom Jammerossi hier und vom Besserwessi da.
Imperialistische DDR
Apropos Jammern. Ein Stück weit wirkt diese Tagung wie eine gruppentherapeutische Aufstellung. Offensichtlich ist der Wunsch, verinnerlichte Minderwertigkeitskomplexe zu verarbeiten. Nur bleibt die Komplexverhaftung bestehen, solange der Westen als übermächtiges Anderes gedacht wird. Wer den Osten als kolonialisiert denkt, akzeptiert letztlich die Zuschreibung der Position des Unterlegen. Man kann nicht in dichotomen Begriffen denken und sie zugleich überwinden.
Im Saal wird zudem eine Generationentrennung sichtbar – zwischen meiner Generation der um die Wendejahre Geborenen und der älteren Generation, die sich nicht etwa nur als Opfer bedauert, sondern sich hier immer wieder fragt, „Was haben wir eigentlich versäumt?, Was hätten wir anders machen müssen?“
Die Generationendifferenz wird besonders deutlich, als Noa K. Ha vom Zentrum für Integrationsstudien der Technischen Universität Dresden zu Recht bemerkt, zu dieser Tagung zum Thema Kolonialismus sei gar kein Kolonialismusforscher eingeladen worden. Warum etwa betrachtet man nicht die vorhandenen anderen Aspekte des Kolonialismus – und zwar dort, wo die DDR selbst kolonialistisch und imperialistisch aufgetreten sei?
Der Einwurf erntet viel Beifall, besonders von den Jüngeren. So verfestigt sich das Bild einer gespaltenen Gesellschaft. Nicht nur in Form einer Kolonie Ost und des kolonialisierenden Westens. Sondern auch in der Generationenfrage beim Umgang mit dem so zentralen Narrativ.
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