Susanne Tägders „Das Schweigen des Wassers“: Eine Stadt sucht keinen Mörder
Vertuscht Susanne Tägder greift in ihrem Krimi einen realen Mordfall an einer jungen Frau in der DDR auf. Ihr Buch lebt von der atmosphärischen Dichte des Settings irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern
Ausgerechnet Wechtershagen! Hierher verschlägt es Hauptkommissar Groth, der als „Aufbauhelfer Ost“ von Hamburg nach Mecklenburg-Vorpommern in ebenjenes Kaff seiner Kindheit versetzt wird. Dort soll er ehemaligen Volkspolizisten korrekte Vernehmungslehre beibringen – die Art von Vernehmung, wie sie in einem Rechtsstaat praktiziert wird. Autorin Susanne Tägder lässt ihren Kommissar in Das Schweigen des Wassers im Sumpf von Machtmissbrauch und SED-Diktatur ermitteln. Gleich zwei Gerechtigkeitsebenen werden tangiert: Groth muss nicht nur einen Mörder ermitteln, sondern Einblick in die Machtstrukturen der Stasi gewinnen. Diese ließen Unschuldige zu Opfern werden und Schuldige ihrer gerechten Strafe entkommen. Ungerechtigkeit auf Meso- und Metaebene als
etaebene also.Groth ist dabei ein Grenzgänger: wurde in der DDR geboren, nur hat er sich rechtzeitig vor dem Mauerbau nach Hamburg absetzen können. Dort wird er Polizist, Gesetzeshüter, einer von den Guten. Er kehrt als Unbelasteter in die Heimat zurück. Nun ja, unbelastet von den Ereignissen der Geschichte. Denn nun, kurz nach der Wende, muss er die Scherben seiner Existenz aufsammeln. Wie es sich für einen Hard-boiled Detective gehört, hat der Mann alles verloren: Seine Frau hat sich scheiden lassen, die Tochter ist gestorben. Kein Wunder, dass der Mann nun mit seiner Arbeit verheiratet ist. Sich den Kopf über einen Fall zu zerbrechen bewahrt ihn immerhin vor seinen Träumen, in denen ihn die verstorbene Tochter aufsucht.Natürlich dauert es nicht lange, bis eine Leiche auftaucht, in diesem Falle die Leiche des ortsansässigen Bootsverleihers, der sich nur kurze Zeit vorher bei Groth gemeldet hat, weil er sich verfolgt fühlte. Von wem oder was? Das wird Groth in dem kurzen Gespräch, das er mit dem Mann führt, nicht klar. Just dieser Mann wird tot an Land geschwemmt, in Sichtweite einer Ausflugsgaststätte. Dort beobachtet eine junge Kellnerin namens Regine den Aufruhr um den Toten. Der war ein Außenseiter und – wie sich rasch herausstellt – in der Vergangenheit einmal der Verdächtige in einem Mordfall.Das Wasser hat nicht nur den Bootsverleiher zum Schweigen verbracht; Groth muss bald herausfinden, dass das Schweigen tiefer geht, die Gemeinschaft durchdringt. Der Mordfall, der sich kurzerhand als tragischer Unfall abtun ließe, führt Groth zurück zu einem weiteren ungelösten Mord, der sich gegen Ende der DDR-Zeit ereignete. Damals war ein junges Mädchen namens Jutta nach einem Disco-Besuch tot aufgefunden worden. Und die ermittelnden Behörden hatten offensichtlich kein Interesse daran, den wahren Täter zu ermitteln. Stattdessen verhörte man einen Unschuldigen so lange und so sadistisch, dass er die Tat gestand. Und Narben fürs Leben davontrug. Der Mord und alles, was darauf folgt, wirkt wie ein Fluch, affiziert die Leben der Angehörigen und Verdächtigten, auch Jahrzehnte danach, nur die wahrhaft Schuldigen gehen weiterhin frei ihrer Wege.Tägder greift in ihrem Krimi einen realen Mordfall an einer jungen Frau in der DDR auf. Damals hatte die Stasi gezielt falsche Spuren verfolgt und Spuren, die zu dem wahren Mädchenmörder hätten führen können, verwischt. Tägders Krimi lebt von der atmosphärischen Dichte des Settings: dem kleinen Ort in Mecklenburg-Vorpommern, der nur in der kurzen Feriensaison zum Leben erwacht, ansonsten ereignis- und zukunftslos erscheint. Die Vergangenheit hängt wie ein Nebelschleier über dem Wasser und Groth, der Außenseiter, muss sich durch das Schweigen arbeiten. Eine Stadt sucht keinen Mörder. Der Kommissar will das ändern.Groth nimmt eine Position als vertrauter Fremder ein: einer, der wie der Leser selbst mit Verwunderung auf die Gemeinschaft regiert, in die er versetzt wird. Und dem doch alles seltsam vertraut vorkommt. Dabei muss Groth rasch feststellen, dass er nicht der Einzige ist, der die Zeit nach der Wiedervereinigung dafür nutzte, neu anzufangen. Auch die Kellnerin Regine umgibt ein Rätsel, das gelöst werden will. In gewisser Weise verdoppelt sie Groth in der Rolle der vertrauten Fremden. Obendrein war sie die Letzte, die den ermordeten Bootsverleiher vor seinem Tod sah. Und dann ist da noch der mysteriöse Fotograf, der das einzige noch vorhandene Bild der Leiche von Jutta aufgenommen hat und damit womöglich entscheidende Erkenntnisse liefern kann. So werden sehr subtil und zunächst kaum merklich mehrere Handlungsfäden ausgelegt, die später zu einem Netz versponnen werden. Wer auch immer der Täter von damals ist: Er scheint nach neuen Opfern zu suchen. Schon deswegen darf die Vergangenheit nicht ruhen.Es braucht einen AußenseiterTägders Krimi zeigt, dass nicht einmal den Toten in einem ungerechten System jemals Gerechtigkeit widerfahren kann. Der Mordfall Jutta hat zahlreiche Leben zerstört und es braucht einen Außenseiter wie Groth, der den Fall neu aufrollt. Das Schweigen des Wassers ist dabei mehr als ein Unterhaltungsbuch, geht es doch um die Fähigkeit der Täter an den „Schaltstellen der Macht“, sich der Verantwortung zu entziehen – ein historisches Faktum, das sich nach dem Ende gleich zweier deutscher Diktaturen offenbarte.Dass einige Nebenfiguren etwas stereotyp angelegt sind – natürlich gibt es eine neugierige Nachbarin, eine vom Typus „Horch und Guck“ –, ist dabei nicht tragisch, im Gegenteil: Die Charaktere, die ganz der Krimi-Typenlehre folgen, erlauben es dem Leser, sich auf den Fall selbst zu konzentrieren. Der dreht sich rasch nicht mehr darum, wer Jutta wirklich umgebracht hat, sondern um die Frage, warum es Regine an den Ort des Verbrechens zieht.Solange die Vergangenheit beschwiegen wird, kann es für die Überlebenden keine Zukunft geben. Das Nachleben einer Diktatur beherrscht auf Jahrzehnte die Biografien ihrer Opfer. Daher kann es keine Schlussstriche geben, jedenfalls so lange nicht, wie die Täter von damals nicht verurteilt sind.Placeholder infobox-1
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