„Wir haben mehr erlebt“

Interview Eine Ausstellung in Leipzig zeigt die Ost-Kunst der Wendejahre ohne gängige Vorurteile
Ausgabe 33/2019

Die Ausstellung Point of No Return im Museum der bildenden Künste in Leipzig zeigt Werke ostdeutscher Künstler, die sich mit den Wendejahren auseinandersetzen. Viele wurden bisher nie gezeigt und befinden sich in Privatbesitz. Die Kuratoren Paul Kaiser und Christoph Tannert verzichteten darauf, vermeintlich dissidente oder staatstragende Positionen zu trennen. Im Vordergrund steht stattdessen die Auseinandersetzung der Künstler mit Stillstand, Hoffnung und Umbruch. Doris Ziegler ist mit ihrem Passagen-Zyklus vertreten. Er zeigt die ostdeutsche Gesellschaft im Zustand der Ungewissheit und des Wartens. Von Rainer Schade sind Werke wie Vergitterter zu sehen, die sich mit den Schäden befassen, die Unfreiheit und Diktatur in den Köpfen der Menschen hinterlassen.

der Freitag: Frau Ziegler, herrschen Gefühle der Freude oder Bitterkeit vor, weil es so lange gedauert hat, bis eine Ausstellung wie diese möglich wurde?

Doris Ziegler: Bitterkeit überhaupt nicht. Ich hätte nicht gedacht, dass einer so in die Schublade reinbohrt und rauszieht, was da drin ist. Man sollte eigentlich die Herren Tannert und Kaiser heiligsprechen für ihre Aktion. Ich hoffe sehr, das hat eine Auswirkung auf die Kunstgeschichte, nehmen wir’s mal ganz groß. Es ist vielleicht gerade der richtige Zeitpunkt.

Herr Schade, ist der größte Fortschritt dieser Schau, dass sie nicht mehr nach Staatsnähe und Dissidenz fragt?

Rainer Schade: Man polarisiert, wenn man vereinfacht: gegen den Staat, für den Staat. So simpel ist das nicht. Die Abstufungen dazwischen, die die Mehrheit ausmachen, vernachlässigt man. Was trauten sich Künstler auszudrücken und mit welcher Strategie? Das ist viel komplizierter freizulegen. Auch die, die geblieben sind und sich nicht Dissidenten nannten, waren mal mehr, mal weniger subversiv. Es war wesentlich mehr möglich, als heute mancher glaubt.

Ziegler: Das Interessante ist jetzt an dieser Ausstellung, dass man bei aller stilistischen Unterschiedlichkeit eine absolut gemeinsame Basis sehen kann. Wir haben damals aufeinander geantwortet, auch auf die Kollegen, die anders dachten.

Die Enge des Systems bedingt wahrscheinlich auch, dass man sich nicht ignorieren kann?

Ziegler: Das gemeinsame Feindbild hat uns verbunden, aber das war auch wieder sehr differenziert untereinander. Ich bin zum Beispiel eine Vertreterin der figürlichen Malerei. Es gab die anderen, die mehr in Konzept oder Environment dachten. Stichwort war: Es durfte keine Literatur sein, keine Narration haben. Das war die Grenze, oftmals. Es war gar nicht so sehr das Politische, es war eine formale Grenze.

Schade: Eine Klammer ist, glaube ich, die Qualität der Ausbildung, und damit des Könnens. Die Klaviatur, auf der die Künstler spielen können, bildnerisch. Und andererseits faszinierend ist trotzdem diese Vielfalt der Ausdrucksweisen von heiter-beschwingt bis sarkastisch, satirisch, finster. Es gibt unterschiedliche Programme, Mentalitäten und Zugriffe. Ich habe zum Beispiel Skulpturen gesehen, die hätten von heute sein können, für mich ein gutes Zeichen.

Nun haben Sie ja beide bei Werner Tübke studiert, der später als „Staatskünstler“ geächtet wurde. War das negatives Gepäck nach der Wende?

Ziegler: Dass ich Schülerin von Tübke und Mattheuer war, das bereue ich bis heute nicht. Die haben einfach die Basics gelegt für meinen Beruf, das muss man sagen.

Schade: Von Mattheuer habe ich denken gelernt, allein durch seine Anwesenheit als Lehrer an der Hochschule. Ich meine jetzt nicht seine Mentalität, sondern wie man bildnerisch agieren und mit Symbolik eine Aussage treffen kann.

Ziegler: Tübke war menschlich gesehen natürlich ein totaler Solitär, das gehörte zu seinem Naturell. Aber in der Tat ist es harte Disziplinschule gewesen.

Zu den Personen

Doris Ziegler, geboren 1949 in Weimar, arbeitet als freie Künstlerin. Sie studierte bei Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB). 1989 wurde sie dort Assistentin, von 1993 bis 2014 Professorin für Malerei

Rainer Schade, geboren 1951 in Leipzig, ist freier Künstler und studierte an der HGB. 1979 wurde er Assistent an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle, von 1992 bis 2016 leitete er als Professor den Bereich Grundlagen der Malerei. Seit 1995 ist er Vorstandsvorsitzender des Leipziger Jahresausstellung e. V.

Hat das auch Ihr Verhältnis zu den eigenen Studenten beeinflusst?

Ziegler: Aber absolut! Ich hatte ja erst mal keine Lehrerfahrung, außer im kleinen Kreis, und ich dachte: Na ja, ein bisschen kannst du’s wie der Tübke machen. Aber das war ein Irrtum, dann kam die Zeit der großen Freiheit.

Schade: Die Studierenden wollten hinausziehen in die Welt, sie wollten nach Paris, nach Florenz. Da habe ich seinerzeit im aufgeregten Fakultätsrat gesagt: Lasst sie reisen, das sollten sie unbedingt sehen. Danach werden sie wiederkommen. Und so war es auch, sie kamen schnell und manche etwas kleinlaut zurück, weil die dortigen Schulen völlig überfüllt waren.

Freiheit fiel jetzt mehrmals als Stichwort. Aber eher in Anführungszeichen.

Schade: Es ist ja nicht so, dass wir nicht frei gedacht hätten, man konnte sich nur nicht frei äußern oder reisen, das war alles furchtbar schwierig. Ich habe teilweise noch bevor ich eine Dienstreise angetreten habe, schon die nächste beantragt. Das hatte den Vorteil, dass der Eindruck erweckt wurde: Wenn der jetzt schon wieder eine Reise beantragt, ist es sehr wahrscheinlich, dass er zurückkommt.

Haben Sie ein Problem mit Labels wie „ostdeutsche“ oder „DDR“-Kunst?

Ziegler: Nee, habe ich eigentlich nicht. Damit ist eine landschaftliche Einordnung da, die finde ich objektiv. Hintergründig, das sieht man ja auch, kommt es eben aus der DDR, während die anderen Künstler eben aus der BRD kamen. Die Kunst sieht dann eben entsprechend anders aus. Nee, ich würde es nicht als Makel sehen. Wir haben mehr erlebt.

Schade: Zwei Systeme! Das Interessante ist doch, dass die Systeme sich ändern können. Die Menschen nicht wirklich.

Ziegler: Wir haben unser Geld pausenlos getauscht, verloren und gewonnen. An und für sich war’s ein hochspannender Prozess. Ich habe natürlich ein gewisses Schampotenzial, ich gehöre mehr oder weniger doch zu den Gewinnern der Wende. Weil ich das große Glück hatte, eine existenzielle Absicherung zu bekommen. Ich hatte auch viele Kollegen und im eigenen Freundeskreis Leute, die fielen durch die Ritze, die waren mit 45 Jahren raus aus dem Berufsleben. Also da gab es unglaubliche, schlimme Verwerfungen. Das ist vielleicht auch der Hintergrund für die Bilder, die da oben hängen. Die alle 93/94 entstanden sind, in dieser Umbruchszeit.

Schade: Umbruch finde ich auch ein interessantes Wort. Meine Großmutter hat die Zeit nach dem Krieg immer Umbruch genannt (lacht).

Was brachte er für Sie?

Ziegler: Ich war Assistentin und war in diesen ganzen Berufungskommissionen als Mittelbauvertreterin. Ich habe mich dann durch die Umstrukturierung auf meine eigene Stelle bewerben müssen. Wir bekamen auf mindestens 50 Prozent der Professorenstellen westdeutsche Kollegen. Es war auch hoch spannend. Ein wahnsinniges Bild dafür: Es gab so eine Kennenlernparty und jeder brachte seine Kataloge mit, um sich vorzustellen. Ich weiß noch, dass ich mit zwei Broschüren unterm Arm kam. Und die neuen Westkollegen kamen mit einem Einkaufswagen, teilweise. Es war das andere System, wir fanden es kurios! Aber wir waren eben auf einmal wieder der arme Ostbruder. Ostschwestern, die eben leider, bedauerlicherweise, nur so ein Broschürchen vorzeigen konnten (lacht). Ich war relativ resilient, aber ich kenne auch viele ältere Kollegen, die schwer von dieser Übermacht gekränkt waren. Es kamen ja auch nicht nur neue Menschen rein, die anders tickten, sich anders verkaufen konnten, sondern sie brachten auch ganz andere Kunstideen mit. Plötzlich waren unsere Traditionen total auf den Prüfstand gestellt. Das waren schwere Jahre.

Können Sie da den Begriff der Kolonialisierung nachvollziehen, den ja auch Paul Kaiser benutzt?

Ziegler: Der ist zu stark, jedenfalls im Bereich der Hochschule. Kolonialisierung ist insofern falsch, weil wir die schon als Kollegen empfanden und auch als Bereicherung, auch als Stachel im Fleisch. Es belebte ja das Geschäft, man lernte ja am Widerstand.

Info

Point of No Return. Wende und Umbruch in der ostdeutschen Kunst Museum der bildenden Künste Leipzig, bis 3. November 2019

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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