Von wegen schönste Nebensache der Welt ...

#WMBoykott #WMderSchande Eine der unerfreulichsten Fußball-Weltmeisterschaften geht zu Ende. Ein paar Gedanken.

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Ein Fußballexperte bin ich nicht. Ich weiß nicht mal, wann Abseits ist und wann nicht. Dafür schäme ich mich nicht.

Seit 1990 schaue ich regelmäßig die Endspiele der Fußball-Weltmeisterschaft gemeinsam mit einer befreundeten Familie. Diesmal entschloss ich mich, zu boykottieren. Informiert bin ich trotzdem, denn ich schaue normale Fernsehnachrichten und höre am Morgen Deutschlandfunk. Wenn da über die Fußball-Weltmeisterschaft berichtet wird, halte ich mir nicht die Augen und die Ohren zu. Aber ich schaue kein einziges Spiel.

Über die gekaufte Weltmeisterschaft, die Unterdrückung von Frauen uns Homosexuellen, die Arbeitsbedingungen für ausländische Arbeiter im Gastgeberland Qatar und die 5.000 bis 6.000 toten Bauarbeiter muss ich keine umfangreichen Ausführunge machen. Das ist eigentlich alles bekannt. Z.B. hier ...

FIFA – Das Monster [SFR-Mediathek]

Eingebetteter Medieninhalt

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Zu den Berichten über die toten Bauarbeiter meldet Quatar, es seien nur sehr wenige Arbeiter bei den Bauarbeiten von Stadien umgekommen. Andere Arbeiter seien beim Bau von U-Bahnen, Autobahnen oder einfach an der Hitze gestorben. Ja, da muss man schon genau sein.

Weltmeisterschaften in fragwürdigen Diktaturen

Es ist nicht das erste mal, dass eine Fußball-Weltmeisterschaft in einer Diktatur veranstaltet wird. 1978 wurde der FIFA-Wordcup in der Militärdiktatur Argentinien veranstaltet. Zehntausende Menschen wurden festgenommen, inhaftiert, gefoltert, hingerichtet oder verschwanden spurlos. Das war für die FIFA und die teilnehmenden Fußball-Nationen kein Problem. Die Deutsche Nationalmannschaft und der Stab trafen sich in ihrem Quartier sogar mit einem Wehrmachtsoffizier a.D, der sich rechtzeitig zum Ende des Zweiten Weltkriegs nach Argentinien abgesetzt hatte und dort erfolgreich ein Netzwerk ehemaliger NAZI-Größen leitete.
Argentinien wurde damals im eigenen Land zum ersten mal Fußball-Weltmeister.

Glanz und Elend der deutschen Fußball-Nationalmannschaft

Nach dem Weltmeistertitel 1990 rutschte die Deutsche Fußballnationalmannschaft ins Mittelmaß ab. Unter den Nationaltrainern Hans Hubert „Berti“ Vogts und Erich Ribbeck mussten wir bei Länderspiel-Konkurrenten wie Luxembourg oder Moldawien den Atem anhalten. 1996 wurde Deutschland zwar Europameister. Das war aber weniger das Verdienst des Teamchefs Berti Vogts sondern mehr des Fußball-Könners Matthias Sammer.
Unter den Teamchefs – oder auf Amtsdeutsch „Bundestrainer“ Rudi Völler und Jürgen Klinsmann erreichte die deutsche Mannschaft wieder Weltklasse. Deutschland wurde Vize-Weltmeister, zwei mal drittbeste Mannschaft und 2014 wieder Weltmeister, bevor der Abstieg begann.
Besonders Jürgen Klinsmann machte die Deutsche Nationalmannschaft mit seinem besonderen Motivations-Voodoo zur besten deutschen Mannschaft, die ich bis dahin erlebt hatte. Mit Könnern wir Miroslav Klose, Lukas Podolski, Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm erlebten wir bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land Fußball mit südamerikanischer Qualität und Virtuosität. Es machte Spaß, ihnen zuzusehen. Die Stimmung im Land war heiter und locker und einfach schön. Über lange Phasen der Weltmeisterschaft war Deutschland die beste Mannschaft überhaupt. Nur die Italiener, die am Anfang große Anlaufschwierigkeiten hatten waren im Halbfinale ein bischen besser.

Deutschland wurde für seine sehr gute Organisation und die Deutschen als gute Gastgeber gelobt.

2014 kam der verdiente vierte Weltmeister-Titel. Dabei waren noch die 2006er WM Helden Klose, Podolski, Schweinsteiger und Lahm. Klose und Podolski saßen zwar die meiste Zeit auf der Ersatzbank, sorgten aber noch für Gruppenzusammenhalt und Motivation, was viel ausmachte.
Wie einigen anderen Weltmeistern ging es Deutschland dann seit 2018. Sie schieden in der Vorrunde aus und wurden Opfer von Häme. 2018 bei der schon umstrittenen Weltmeisterschaft in Russland schied Deutschland als Gruppenletzter mit zwei verlorenen Partien und einem Sieg aus.

Boykott, eine Armbinde und lächerliche Signale

Ja, ich bin der Meinung, es ist richtig, diese Fußball-Weltmeisterschaft zu boykottieren, und ich tue es. Sehr viele Menschen in Deutschland tun es – allerdings fast nur hier. In den beisten anderen Fußball-besgeisterten Ländern schauen die Menschen überwiegend ganz normal Fußball und kaufen Trikots, Fahnen und Fan-Produkte, an denen die FIFA viel Milliarden verdient. In Deutschland wirkt es immerhin ein bischen. Deutsche WM-Trikots werden Ladenhüter und während der Weltmeisterschaft für einen Bruchteil des ursprünglichen Ladenpreises verramscht. Unverkäufliche Ware wird angeblich vernichtet. Die Supermarktkette REWE verabschiedet sich als Sponsor und boykottiert die Weltmeisterschaft. Aber wer soll bei einer Fußball-Weltmeisterschaft im Spätherbst und Winter auch Fußball-Trikots mit kurzen Hosen tragen.

Waren bei früheren Weltmeisterschaften und Europameisterschaften zahlreiche Hausfassaden und Autos mit deutschen, italienischen, spanischen, französischen, belgischen, kroatischen und türkischen Fahnen und Girlanden dekoriert, ist dieses Jahr nichts zu sehen. Nichts.

Interessant ist, dass die FIFA bisher komplette Nationen zu ihrem Geschäftsmodell zwingen konnte. Die Gastgebernation Qatar verbietet alkoholhaltiges Bier in der Öffentlichkeit – außer für Fußballfunktionäre und ihre Familien und Gäste – und die FIFA muss sich beugen. Wie lange der Marktführer der US-amerikanischen Bierhersteller noch Sponsor der Weltmeisterschaft bleiben wird, werden wir sehen.
Bei der Deutschen Mannschaft soll als Signal gegen die Umstände und Arbeitsbedingungen der Weltmeisterschaft eine „One-Love“-Armbinde mit Regenbogenfahne getragen werden. Die FIFA verbietet die Binde und droht bei Verstoß gegen das Verbot gelbe Karten für alle Beteiligten an.

Die iranische Nationalmannschaft weigert sich konsequent, die eigene Nationalhymne aus Protest gegen die Unterdrückung im eigenen Land zu singen. Dafür wird es sicher mehr geben als gelbe Karten.

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Die Deutschen stellen sich vor dem Gruppenspiel in gebückter Haltung auf den Platz und halten sich mit einer Hand den Mund zu. Das soll die Forderung nach Meinungsfreiheit signalisieren, wird von Vielen nicht verstanden und von Vielen ausgelacht. Die Bedeutung der Mund-zu-Aktion musste mehrfach erklärt werden. Und wenn so eine Aktion erklärt werden muss, ist sie einfach misslungen. Lange denke ich darüber nach, wie lange wie viele Beteiligte in wie vielen Arbeitsgruppen diese Mund-zu-Aktion entwickelten. Dann wird berichtet, dass eine Werbe- und Kommunikationsagentur, die früher schon Wahlkampf für die SPD machte, im Auftrag des DFB-Präsidenten (auch SPD-Mitglied) entwickelt wurde. Angeblich war die Mehrheit der Mannschaft dagegen, machte dann aber aus Angst vor Repressionen mit. Innerhalb der Nationalmannschaft wurde die Aktion angeblich von Manuel Neuer und Leon Goretzka durchgesetzt. Das ist dann alles im Zusammenhang mit der verhinderten „One-Love“-Binde besonders peinlich und verlogen. Denn Neuer und Goretzka tragen bei ihrem Arbeitgeber Bayern München normalerweise ein Logo des Großsponsors AIR QATAR an der Schulter. Das ist auch das Gegenteil des Mannschaftszusammenhaltes und der positiven Energie der Nationalmannschaften von 2006 und 2014.

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Ein wirklich starkes, ernsthaftes und glaubwürdiges Signal wäre es gewesen, gemeinsam mit der gegnerischen Mannschaft und in Absprache mit den Schiedsrichtern*innen vor oder nach den Nationalhymnen eine Schweigeminute für die toten ausländischen Arbeiter einzulegen. Aber das machte niemand.
Die Deutsche Mannschaft verliert ein Vorrundenspiel gegen Japan, schafft mit Mühe ein Unentschieden gegen Spanien und gewinnt die dritte Partie gegen Costa Rica.
Am Abend des zweiten Spiels liege ich um 21:00 Uhr im Bett, denn am nächsten Morgen wird der Wecker um 4:00 Uhr klingeln. Um 22:22 Uhr werde ich vom lauten Schimpfen meines Nachbars von oben geweckt. Nach dem Pieseln schaue ich aus Neugier in den Videotext und erfahre das Ergebnis: Unentschieden.
Dann habe ich Schwierigkeiten, wieder einzuschlafen, denn ich muss unfreiwillig permanent durchrechnen: Wenn beim dritten Vorrundenspiel gegen Costa Rica die Gegenpartie so ausgeht und die Deutschen mit einer Tordifferenz von mindestens soundso gewinnen, schaffen sie es wahrscheinlich noch. Und das nehme ich der Mannschaft übel. Zwischen 2002 und 2014 war ich glücklich darüber, nicht solche Rechenspiele machen zu müssen, weil die Deutsche Nationalmannschaft zu gut dafür war.
Die Deutschen verlassen die Weltmeisterschaft nach der Vorrunde als Gruppendritter. Glückwunsch. Das ist ein Fortschritt gegenüber der 2018er Weltmeisterschaft in Russland, als Titelverteidiger Deutschland Gruppenletzter wurde. Auch frühere Titelverteidiger wie Frankreich, Italien und Spanien hatten dieses Schicksal vor der Deutschen Mannschaft. Es geht auch noch schlimmer. Die mehrfache Weltmeisternation Italien ist inzwischen so schlecht, dass sie sich nicht für diese Weltmeisterschaft qualifizieren konnte.

Es macht keinen Spaß mehr, Fußball zu schauen,

Ein sehr guter Freund wollte mir mal zum Geburtstag eine Eintrittskarte für ein Fußballspiel von Eintracht Frankfurt im Frankfurter Waldstadion alias Commerzbank-Arena alias Regenwaldstadion schenken. Das musste ich ablehnen. Nicht nur wegen der noch grassierenden Pandemie wollte ich große Menschenmengen lieber meiden. In den Stadien und in den asozialen Netzwerken tummeln sich zu viele sehr dumme und sehr asoziale Menschen mit sehr dummen und sehr asozialen Kommentaren und Aktionen. Bei einem Fußball-Spiel wurde vor einigen Jahren ein Fan so schlimm von gegnerischen Fans misshandelt, dass er seitdem vom Hals abwärts querschnittgelähmt ist. Bei einem Auswärtsspiel der Eintracht in Marseille wurde in diesem Jahr ein deutscher Fan von einem pyrotechnischen Geschoss getroffen und und so schwer verletzt, dass er mehrfach operiert werden musste.
Nach den Siegen der marokkanischen Mannschaft randalieren in Belgien und Frankreich mehrfach Einwohner*innen mit marokkanischen Wurzeln in den Großstädten. In deutschen Städten feiern marokkanische Fans auch und das ist ganz normal. Bis auf sehr wenige Einzelfälle bleibt es aber sehr friedlich.

In Kommentaren zu den Vorrundenspielen der Deutschen regen sich die Leute darüber auf, dass bei einer Männer-Weltmeisterschaft erstmals eine Schiedsrichterin ein Spiel leitet. Wir lesen Hasskommentare wie diese (Zizate, nicht meine Meinung!):

"perfekt gelaufen! Die Onelove-Schwuchteln werden heimgeschickt. Die "Deutsche Nationalmannschaft spiegelt perfekt den Zustand des Landes wieder! ... wir sind WOKE, BUNT, KLIMANEUTRAL... sonst können wir nix mehr"

"Ich wünsche den Spaniern eine Woche lang Brechdurchfall!"

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Und sonst ...

Das eine Vorrundenspiel der Deutschen schauen weniger Menschen als das Endspiel der Fußball-Europameisterschaft der Frauen.

ARD und ZDF zahlten über 200 Millionen Euro für die Senderechte dieser Fußball-Weltmeisterschaft. Das Achtelfinale England gegen Senegal wird am Sonntag Abend nur von MAGENTA-TV gezeigt. ARD und ZDF zeigen zwei TATORT-Wiederholungen aus den 2010er Jahren und „Rosemunde Pilcher – Pralinen zum Frühstück“. Das Zielpublikum zu sedieren ist wichtiger als ein Spiel der #WMderSchande, das im Vergleich zu früheren Weltmeisterschaften weniger als die Hälfte der Leute schaut.

Die Überraschungsmannschaft von Marokko kickt Belgien, den mehrfachen Welt- und Europameister Spanien, Ex-Europameister Portugal und Rekord-Weltmeister Brasilien aus dem Turnier. Erst im Halbfinale werden die Marokkaner aufgehalten und werden schließlich die viertbeste Fußballmannschaft der Welt, worauf sie stolz sein können.

Obwohl zahlreiche Menschen mit kroatischen und marokkanischen Wurzeln in Deutschland leben, die sich nicht alle einen MAGENTA-TV-Anschluss leisten können, übertragen ARD und ZDF am Samstag, den 17. Dezember nicht das Spiel um den Dritten Platz sondern Wintersport (ARD) sowie Serienwiederholungen (ROSENHEIM-COPS) und eine Reporttage („Weihnachten ohne Plastik“).

Lionel Messi verweigert mehreren Spielern von mehreren gegnerischen Mannschaften den Handschlag. Das ist inhöflich, unsympatisch und arrogant.

Endspiel-Tag 18. Dezember (Stand: ca. 10:00 Uhr)

Vielleicht schalte ich mal rein, wenn ich weiß dass die Partie zu Ende sein wird. Es wäre lobenswert, wenn die Mannschaften von Argentinien und Titelverteidiger Frankreich nicht dem korrupten FIFA-Präsidenten Infantino die Hand schütteln und die Medallien ablehen. Das wird aber wahrscheinlich nicht passieren und sie werden alle brav vor dem buckeln, sich die Medallie umhängen lassen und die Hand schütteln, damit die Karrieren keinen Schaden nehmen.

Am Morgen danach ...

Nach drei Folgen DIE STRASSEN VON SAN FRANCISCO schalte ich um 19:30 Uhr ich in die ARD, als das Ergebnis feststeht. Argentinien ist zum dritten mal Weltmeister. Lionel Messi wird Weltmeister, Fußballer des Jahres und bekommt vom Emir von Qatar als Bonusmaterial einen orientalischen Pascha-Mantel angezogen, was ihm überhaupt nicht gefällt. Alle Beteiligten lassen sich brav von FIFA-Präsident Infantino und vom Sultan die Hand schütteln und umarmen. Schade eigentlich.
Das Spektakel ist rechtzeitig um 20:00 Uhr zu Ende und das Zielpublikum kann am Sonntag Abend Tagesschau und TATORT schauen.
Für Qatar ist die Weltmeisterschaft ein Erfolg – nicht sportlich aber geschäftlich.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Betzwieser

Personifizierter Ärger über Meinungsmanipulation, Kino- und Kabarattliebhaber

Martin Betzwieser

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