Nach Jahren endlich wieder in Brüssel. Ich will die Scharnierstelle sehen, von der aus die Dreiviertel-Billion Euro verteilt wird, auf die sich die Spitzen der EU 2020 zur grün-digitalen Bewältigung der Pandemie verständigt haben. Der Fonds heißt offiziell „NextGenerationEU“, wird aber in jeder EU-Sprache ganz anders genannt, auf Deutsch meist „Wiederaufbaufonds“. Das Ganze stellt einen revolutionären Sprung in der Evolution der europäischen Integration dar: Erstmals tut die Europäische Kommission, was sie bislang nicht durfte – sie nimmt Schulden auf und kontrolliert zentral die Vergabe des Geldes. Zum Abstottern dieser Anleihen wird die EU eigene, heute noch unbekannte Steuern einheben dürfen. Da sich Europa f
wird die EU eigene, heute noch unbekannte Steuern einheben dürfen. Da sich Europa für die Rückzahlung bis 2058 Zeit lässt, ist „NextGenerationEU“ gar kein schlechter Name – die Nachgeborenen zahlen.Geld in RatenDie EU-Hauptstadt hat sich kaum verändert. Die Bürgersteige sind bucklig wie eh und je. Ich treffe alte Freunde aus der Kommission. Bei einem privaten Abendessen plaudern die „Internationals“ über dies und das, am längsten über auf Okinawa und Taiwan absolvierte Radtouren. Das Thema Ukraine bringt niemand auf. Später in der Nacht sagt die Rumänin Liliana in meiner liebsten kongolesischen Eckbar: „Der Krieg ist weit weg.“ – Von der Rue de la Loi, der durch die imposanteste Büroschlucht führenden Verkehrsschneise, ist neuerdings ein Fahrrad-Highway abgezwackt. Ich finde die „Aufbau- und Resilienzfazilität“ – abgekürzt heißt sie RECOVER – im Hauptsitz der Kommission, im „Berlaymont“. Man kommt schwerer rein als früher, ich werde vom Eingang abgeholt und zum Ausgang gebracht. Am Empfang steht: „ALERT LEVEL: YELLOW“. Veerle Nuyts, eine nette unprätentiöse Belgierin, die erst vier Jahre für die Kommission arbeitet, gibt mir im Raum BERL 03/340 ein Interview. Da sie es nicht gewohnt ist, am Arbeitsplatz ihre Muttersprache zu sprechen, ist ihr Flämisch von Anglizismen durchsetzt. So sagt sie, das Personal sei der Fazilität großteils durch „een internal reshuffling“ zugewiesen worden. Die Struktur von RECOVER sei ein „Matrixsystem“: Wie üblich – „das ist der Reichtum der Kommission“ (Nuyts) – werde mit auf einen Mitgliedsstaat spezialisierten „Country Desks“ gearbeitet. Zugleich gebe es aber auch eine horizontale Struktur. „Was sehr fantastisch ist. Sie lernen nicht allein ein Land sehr gut kennen, sondern bekommen auch einen exzellenten Überblick im Interesse der Kommission, etwa über die Infrastruktur von Krankenhäusern. Das ist unglaublich breit, interessant und motivierend.“ Die Fazilität wird ihrerseits auch von den Generaldirektionen Klima, Umwelt und Digitales kontrolliert.Nuyts selbst hat im Fazilitätsteam für den nationalen Wiederaufbauplan Belgiens gearbeitet, „das ist ein Vertrag, den Belgien mit der Kommission hat, das war eine sehr intensive Zeit“. Da ging es etwa um die Einführung von 5G. Dass ihr Land nicht viel kriegt, findet sie richtig: „Ja, das ist die ganze Philosophie, dass Länder, die mehr gelitten haben, zum Beispiel stark vom Tourismus abhängige Länder wie Griechenland, mehr kriegen. Das ist solidarisch.“Von der Dreiviertel-Billion sind mit Stand Juni erst 99,7 Milliarden ausgezahlt. Einige Länder (Niederlande) haben noch gar keinen nationalen Plan vorgelegt. Wir gehen das haarige Beispiel Polen durch. Polen stehen 35,4 Milliarden zu, „es ist aber wichtig zu begreifen“, betont Nuyts, „dass Polen noch kein Geld aus dem Wiederaufbaufonds bekommt, nichts.“ Der Prozess läuft in Phasen ab: Zwar haben die Fazilität und das Kollegium der Kommissare den polnischen Wiederaufbauplan gebilligt, zwar gab der Europäische Rat im Juni grünes Licht, doch bekommt Polen erst dann eine erste Überweisung, wenn es den Nachweis erbringt, dass die umstrittene Disziplinarkammer für Richter abgeschafft ist. Und auch dann fließt das Geld nur in Raten.Frau Nuyts ist sich der „unglaublichen“ historischen Bedeutung ihres Jobs bewusst: „Ich habe wirklich das Gefühl, einen Impact zu machen für die europäischen Bürger. Die Kommission war hier der Motor.“ Die EU-Länder seien „zusammen stärker geworden“, sogar „die Holländer haben begriffen, dass, wenn Spanier ihre Tulpen kaufen sollen, dann brauchen sie Kaufkraft“. Nur einmal und ganz dezent frage ich die Kommissionsbeamtin nach der Rückzahlung der europäischen Schulden: „Bis 2058 soll das zurückgezahlt werden, oder?“ Sie antwortet: „Das müsste ich recherchieren, das weiß ich nicht. Die Fazilität wird 2026 geschlossen, Mitte 2026 muss alles implementiert sein.“ 2058 – sind wir da überhaupt noch auf der Welt? Ist echt noch weit weg.