Unterwegs in Kasachstan: Dem drittrussischsten Land der Erde
Reportage Mit Russland teilen sie die Sprache und die längste ununterbrochene Landgrenze weltweit, im Januar schlugen russische Soldaten hier einen Aufstand nieder. Wie blicken die Kasachen auf den Ukraine-Krieg?
Am ersten Morgen meiner ersten Kasachstanreise ließ der Zug die baumlose kasachische Steppe hinter sich und fuhr in lichte Birkenhaine ein. Sibirien rückte näher. Ich war in Nordkasachstan, der mehrheitlich von ethnischen Russen bewohnten Region des – sprachlich gesehen – drittrussischsten Landes der Welt nach Belarus. Scharfmacher aus Russland reklamieren manchmal auch Nordkasachstan als „russische Erde“, die heimzuholen sei.
Schon der Zug Karaganda – Omsk war vollrussisch. Meine Reisegenossen zerflossen in Nostalgie über die Schönheit sibirischer Städte in den Siebzigerjahren. Ohne den Krieg direkt anzusprechen, schimpfte die Alte auf „Bandera-Ukrainer, die jeden dritten Weißrussen umbrachten“, der Alte lobte die
lobte die russische Armee, „die erst von Putin auf Vordermann gebracht wurde“. Er schien lange keine Nachrichten gesehen zu haben.In der Regionalhauptstadt Petropawl waren sich hiesige Russen einig, dies sei mit „minus 40“ die kälteste Stadt Kasachstans, die „Wärme“ in Kasachstans Süden wurde mythisch verklärt. Eine ältere Eisenbahningenieurin, die mir den Weg erklärte, erwähnte die geförderte Ansiedlung von Südkasachen, „die fühlen sich aber im hiesigen Klima unwohl, sie sind Viehzüchter, hier wird Weizen angebaut“. Weiterhin herrschte Einigkeit darüber, dass die in „Kasachstans Verfassung“ umbenannte Leninstraße „die längste ununterbrochene Fußgängerzone der Welt“ bilde. Ich sah dort viele lateinisch als „Éspresso Bari“ angeschriebene Bobo-Cafés, in denen Designstudentinnen bei „Cappuccino Salted Caramel“ an geometrisch komplexen Zeichnungen feilten. Für den Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde sehe ich schwarz – vier-, fünfmal unterbrechen Autostraßen die Fußgängerzone.Alle beteuerten beflissen ihre Anhänglichkeit an Kasachstan als Hort multinationaler Toleranz, gleichzeitig waren da einige Momente ängstlichen Zwänglertums. Ein hochbegabter Hobby-Rapper, der mir den Weg erklärte, steckte mir sein Earphone mit obszönstem US-Rap ins Ohr. Nach Putins Krieg gefragt, fragte der junge Petropawler Russe zurück: „Wie zum Teufel konnte ein Komiker dort Präsident werden?“ Die Ukraine habe um russische Militärhilfe gebeten, wusste er aus dem Internet, Putins Fehler sei, den bestellten Einsatz nicht gestoppt zu haben. Als ich ihn nach dem rätselhaften Kasachstan-Aufstand vom Januar fragte, der mit Hilfe von vorwiegend russischen Truppen niedergeschlagen wurde, wurde der Rapper, der „die Wahrheit herausschreit“, wortkarg.Hier funktioniert InstagramIn der kühlen Petropawler Herbstsonne fiel mir ein sanftes Mädel auf, das Englisch ins Smartphone sprach. Die 20-jährige Kasachstan-Russin war in die Krupskaja-Schule gegangen („in deren Luftschutzkeller passen tausend Leute, die dort ein Jahr überleben können“), hatte als mäßig erfolgreiche Sprung-Athletin Bulgarien, Spanien und Portugal kennengelernt und studierte nun für die Aufnahmeprüfung einer Petersburger Filmhochschule. Sie setzte mehrmals täglich eine auf 15 Sekunden begrenzte Instagram-Story ab, einmal wöchentlich auf Englisch. Ihre Spezialität waren Frühstücksstorys, schon Hunderte Male hat sie das gefilmt, „mein Frühstück hat viel Atmosphäre, jeder kriegt Appetit darauf“. Sie hatte 360 Follower und erntete im Schnitt 15 Smileys. Sie führte mich ermüdend lange zur historischen Residenz eines Khans, über den sie nichts wusste, dann in ein weiteres Bobo-Lokal, in dem sie die Pasta mit Meeresfrüchten liebte. Meinem Alter begegnete sie mit Milde: „Sie sind zu Zeiten der Sowjetunion aufgewachsen, für Sie hat sich alles verändert.“ Sie nannte Petropawl „eine eher russische Stadt, die Kasachen vergessen wir aber nicht“. Sie konnte kaum mehr als grüßen („Salem!“), nötigenfalls würde sie aber auch Kasachisch sprechen. Hätte sie in Russland, wo Instagram verboten ist, nicht Angst vor Isolation? „Nein, ich bin ein Mensch, der fast immer einen Ausweg sieht.“ Man kann ja auch von Youtube auf Rutube wechseln.Placeholder image-1Die „Januar-Ereignisse“, wegen derer sie „zwei Wochen“ ohne Internet zu Hause sitzen musste, hatte die nordkasachische Frühstücks-Influencerin „schon vergessen, so schrecklich war das“. Der Ukrainekrieg, stimmte sie beschämt zu, sei freilich noch schrecklicher. Sie fühlte sich unvollständig informiert, gedruckte Tageszeitungen waren zu ihrem Bedauern verschwunden, die aktuellste Zeitung am Hauptbahnhof der Hauptstadt kann schon mal neun Tage alt sein. Die Influencerin unterstützte keine Partei, „das ukrainische Volk tut mir leid“.Ich reiste weiter, in die zweitkälteste Hauptstadt der Welt Astana, in die üppige Oasen-Metropole des Südens Alma-Ata, in den Uigurischen Bezirk an der Grenze zu China, dann in den äußersten Westen des neuntgrößten Landes der Welt. Während die Russen zu den vier anderen Ex-Sowjetrepubliken Zentralasiens keinen Landzugang haben, teilen sie mit Kasachstan die längste ununterbrochene Landgrenze der Welt – und da gut ein Drittel der ethnischen Kasachen russische Muttersprachler sind, teilen sie auch die Sprache. In Alma-Ata, aber auch in anderen Großstädten dieses sehr urbanen Landes, traf ich einen authentisch eurasiatischen Menschenschlag an, der sich nach europäischen Moden kleidete und bewegte, literarisches Russisch sprach und sich erst aus nächster Nähe – beim Blick auf die Augenwinkel – als asiatisch entpuppte.Dem entsprach die Politik Kasachstans seit Kriegsausbruch. Präsident Kassym-Schomart Tokajew, ein Karriere-Diplomat, zeigte keinerlei Dankbarkeit für die Waffenhilfe vom Januar, schlug einen Kurs prowestlicher Liberalisierung ein, erkannte die „Volksrepubliken“ im Donbass nicht an, ließ das russische Georgsbändchen verbieten. Das anderswo allgegenwärtige Blau-Gelb der Ukraine aber fehlte im öffentlichen Leben. In Kasachstans TV-Nachrichten kam Putins Krieg kaum vor. Am Tag nach der Teilmobilmachung wurde mit dem Pflanzen von acht Millionen Baumsetzlingen bei Astana aufgemacht; allein eine Wirtschafts-Talkshow diskutierte wohlwollend sachlich, was ein Zuzug russischer Kriegsverweigerer für den kasachischen Arbeitsmarkt bedeuten könnte. Wer kein Kasachisch konnte, dem standen alle Medien Russlands zur Verfügung. Kasachischsprachige tendierten dazu, Russlands Vorgehen in der Ukraine als „imperialistisch“ und als „Gefahr“ für Kasachstan anzusehen.Als dritten geopolitischen Vektor nahm ich vereinzelt Islamismus von wahabitischer Rigidität wahr. Darauf stieß ich komischerweise im äußersten Westen – im europäischen Kasachstan. Da Kasachen ihr eigenes Land schlecht und Europa fast gar nicht kennen, weiß kaum jemand im Land, dass fünf Prozent von Kasachstan – eine größere Fläche als das Staatsgebiet der seligen Tschechoslowakei – geografisch in Europa liegen. Kasachstan darf deshalb in der UEFA Fußball spielen. Atyrau, die Schaltzentrale der Öl- und Gasförderung, die ihre Bevölkerung auf mehr als 300.000 verdoppelt hat, liegt halb in Europa und halb in Asien.Es war heiß, ich schwamm von Asien nach Europa. Da der ohnehin träge Ural-Fluss Niedrigwasser führte, war man in zehn Minuten drüben. Am europäischen Ufer hörte ich nach einer Woche Kasachstan zum ersten Mal den Muezzin rufen. Zwecks Vermeidung des exorbitanten Zolls fuhren viele Kasachen hier mit russischen (oder armenischen) Autokennzeichen. Der Taxifahrer, mit dem ich meinem verpassten Wüstenzug nachjagte, gestand mir kleinlaut, dass ihm seine Saratower Nummerntafel seit dem 24. Februar peinlich war: „Aber was soll ich machen?“ Ein junger kasachischer Russe, zur Herstellung von Tourismus-Clips aus der nördlichen Industriestadt Aqtöbe in die südwestliche Ferienstadt Aktau gezogen, nannte russische Scharfmacher „Nazis“.Auf einer europäischen Atyrauer Restaurant-Terrasse mit Asienblick begriff ich, warum sich Staatsgründer Nursultan Nasarbajew, aber auch die USA in Kasachstan so geringer Beliebtheit erfreuten – der 1993 unterzeichnete 40-Jahre-Vertrag über die Ausbeutung des sechstgrößten Ölfeldes der Welt hielt das eigentlich stinkreiche Kasachstan relativ arm. Chevron hält 50 Prozent am Tengiz-Feld, ExxonMobil 25, der Großteil des Profits geht nach Amerika.Ich saß zwischen zwei Gesellschaften von Internationals aus dem Ölbusiness, wurde Zeuge eines ungenierten Herrschaftsdiskurses. Die Zentralasiaten an beiden Tischen, die untereinander Russisch sprachen, spielten die Rolle der Schüler, die nur Privates beredeten: „Als der Pool aufmachte, rannten alle wie kleine Kinder hin; Mann, war das lustig!“ Die Lehrer sprachen am einen Tisch Arabisch, am anderen Italienisch, Unterrichtssprache war Englisch. Ein Araber nannte einen seiner Mitarbeiter „shitty guy“, ein anderer verlautete: „Die Leute entscheiden selbst, was sie wert sind. Heute nichts, aber morgen ...“ Ein alter Italiener meinte mit Blick auf Sediment-Probleme: „Wenn wir nicht dort wären, wäre das ein Desaster.“ Als die Temperatur auf 24 fiel, schlüpfte der jüngere Italiener in seinen roten Kapuzenanorak und knabberte kichernd an einer roten Möhre.Ich verließ Kasachstan an Tag drei nach der Teilmobilmachung, die Medien voll mit Nachrichten über fliehende russische Männer. Ich hingegen sah am Flughafen Astana zahlreiche augenscheinlich wehrfähige Russen für den Heimflug nach Nowosibirsk anstehen. „Keine Angst“, wurde einer gefragt, „jetzt nach Russland zurückzukehren?“ Er antwortete: „Da gibts nichts zu befürchten.“Im Flieger Richtung Abu Dhabi saß so ein Mobilisierungsflüchtling neben mir. Ein sanfter Moskauer Junge, strohgelb gefärbte Haare, knallbunter Poncho. Neben ihm ein älterer kasachischer Urlauber, der sich konsequent blöd stellte und den Jüngling befragte, als handelte es sich um gewöhnliche Arbeitsmigration. Der Junge entschuldigte sich, „ich will mir das hier noch ins Gedächtnis einprägen“, rannte kurz aufs Flugfeld hinaus. Der junge Russe war bereits in Freiheit. Kasachstan empfand er aber wohl irgendwie noch als Zuhause.Placeholder infobox-1