Letztes Aufbäumen der 'alten Linken'

aufstehen.de ist 1970er Die Erstunterzeichner sind oft "a.D". resignierte Ruheständler und wagen den letzten Versuch. Aufstehen-Bewegung will ENTWEDER-ODER statt SOWOHL-ALS-AUCH.

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Aufstehen.de = das letzte Aufbäumen der alten Linken!

Nun ist es draußen. Nur wenige Stunden nachdem begeisterten miteinander der 65.000 um das Karl Marx Denkmal in Chemnitz herum, gemeinsam gegen Hass und Rassismus aufgestanden sind, beherrscht die Dame mit dem Rosa Luxemburg-Image in roten Kostüm die Bilder der TV-Nachrichtensendungen.

Eingebetteter Medieninhalt

Die Webseite „aufstehen.de“, quasi das Zentralorgan des neuen Bündnisses, veröffentlicht erstmals eine längere Liste von Unterstützerinnen und Unterstützern.

Und ich gestehe, zu meiner spontanen Verwunderung sind viele dabei, vor deren persönlicher Haltung ich großen Respekt habe. Ich will mich weiter unten auch angreifbar machen und zu einzelnen meine Meinung äußern. Aber was mir am meisten auffällt ist, dass hinter vielen Funktionen „a. D.“ steht, also „außer Diensten“. Geprägt wird die Liste von Menschen meiner Generation. Ich bin 1950 geboren, war 1968 18 Jahre alt und bezeichne mich heute noch 50 Jahre später voller Stolz als Alt-68.

Ich habe aber spätestens seit dem Niedergang des Staatssozialismus gelernt, dass für viele dieser Begriff eher mit Wehmut und Nostalgie verbunden ist, mit Geringschätzung der nachwachsenden Generationen, mit Distanz zu neuen Organisationsmodellen, mit Ignoranz über die Verbrechen und Fehler der sozialistischen Arbeiterbewegung, des Stalinismus wie auch der Korrumpiertheit der Gewerkschaftsapparate.

Als ich 1984 aus der hauptamtlichen Tätigkeit wie der Mitgliedschaft der DKP ausschied und in diesem Zusammenhang als Verräter und Spitzel denunziert wurde, nannte man sie die „neuen sozialen Bewegungen“: die Umweltbewegung, die Frauenbewegung, und als ganz zartes Pflänzchen die Schwulen-und Lesben-Bewegung. Der Streit mit meinen damaligen kommunistischen Genossen wurde - wie ich heute weiß, weltweit geführt: „Das sind doch alles „Nebenwidersprüche“ die erst gelöst werden können, wenn der Hauptwiderspruch, der „Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit“ gelöst sei!“ tönte es von Düsseldorf (der DKP-Zentrale über Pankow und Moskau bis nach Havanna. (Die DKP-Reformer vertraten damals die -wie ich noch heute finde – kluge Konzeption, der organisierten Sozialisten als „Scharnier zwischen Arbeiterbewegung und den neuen sozialen Bewegungen)

Schmerzhaft muss ich in diesen Wochen erleben, dass auch 35 Jahre später dieser Streit nicht nur nicht gelöst ist sondern – so sehe ich es – vor allem mit der neu gegründeten Bewegung „aufstehen.de "vertieft wird.

Es ist aus meiner Sicht der nicht versiegende Schmerz über den Untergang der Arbeiterklasse, wie wir vor 50 Jahren glaubten sie zu kennen. Es wundert mich deshalb auch nicht, dass ein wichtiger Teil der Unterstützer aus der Gewerkschaftsbewegung kommen: Detlef Hensche, letzter Vorsitzende der früheren IG Druck und Papier (später IG Medien), der ehemalige Betriebsratsvorsitzende von Opel Bochum, Rainer Einenkel, der vor 45 Jahren wie ich in der sozialistischen deutschen Arbeiterjugend(SDAJ) zur umworbenen Gruppe der Jugendvertreter zählt, und Ralf Krämer vom Bundesvorstand von Verdi, der einer der Hauptvertreter des Widerstands gegen das bedingungslose Grundeinkommen in der Gewerkschaftsbewegung darstellt.

Frustrierte Rückschau in der Abenddämmerung eines politischen Kämpferlebens

Es sind viele Menschen, die jetzt in der Abenddämmerung des politischen Lebens – so habe ich den Eindruck – frustriert zurückschauen auf die Bilanz der Kämpfe der letzten Jahrzehnte, gekennzeichnet durch den Niedergang des sozialistischen Weltsystems, genauso wie der Halbierung der Mitgliedszahlen sowohl der Gewerkschaften wie auch der politischen Parteien seit 1990.

Antje Vollmer und Ludger Vollmer sind resigniert über die Entwicklung der von ihnen mit gegründeten Grünen Partei,

Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht kann man dasselbe für die von ihnen geprägte Linkspartei unterstellen,

Rudolf Dressler und Detlef von Larcher komplettieren die Riege der resignierten Ruheständler für ihre Herkunftspartei SPD.

Dass sich auch die führenden Wissenschaftler der Rosa Luxemburg Stiftung Michael Brie und vor allem Professor Dieter Klein auf der Liste finden, hat mich geschockt, aber kann ich mir auch nur mit dem selben biografischen Schmerz erklären.

Eugen Drewermann der Shootingstar jeder Ostermarschkundgebung, ist mir schon sehr lange als Interpret emanzipatorischer Bibelstellen wie auch psychotherapeutischer Deutungen der Märchen sehr viel näher als in seinen politischen Reden, in denen kaum Hoffnung sondern nur noch Apokalypse herauszuhören ist. Sein diesbezüglich wichtigstes Zitat ist sicherlich auch deshalb "Wäre ich Politiker, wäre ich längst verzweifelt! "

Dass der ehemalige Redenschreiber von Willy Brandt, Albrecht Müller (nachdenkseiten.de) dabei ist, der jedes Abweichen vom sogenannten KlassenStandpunkt in Richtung solcher "Nebenkriegsschauplätze" wie Minderheitenschutz, Sexismus, Spiritualität oder alternative Organisationsformen auf seiner Webseite geißelt oder geiseln lässt, hat mich dagegen überhaupt nicht verwundert.

Das neben Lisa Fritz, Nina Hagen auch mein Freund Florian Kirner (Prinz Chaos) dabei ist, wusste ich schon länger, wundert mich auch nicht, weil ich Zeit meines Lebens empfunden habe, dass Künstler deren Hauptmaterial nicht die Analyse sondern die Emotionalität ist, einen Bonus auf Linksradikalität haben (vielleicht sogar haben müssen), weshalb es sicher nur eine Frage der Zeit ist, bis auch Konstantin Wecker mit von der Partie ist.

Ein ganz anderer Fall sind die aus dem Osten der Republik stammenden Schriftsteller und Schriftstellerinnen Daniela Dahn, Christoph Hein, Ingo Schulze. Eugen Ruge. Alles völlig unterschiedliche Biografien und Individuen. Dass ausgerechnet Eugen Ruge dazugehört, hat mich verwirrt. Er ist Sohn des DDR Historikers Wolfgang Ruge, der selbst ein Opfer des Stalinismus war. Eugen Ruge hat das großartige Buch verfasst: „in Zeiten des abnehmenden Lichts“. Und ja der Titel ist Aussage, natürlich endet auch dieses Buch im Düsteren. Warum also wundere ich mich eigentlich?

Über den ein oder anderen gäbe es auch noch was zu sagen und natürlich ist nicht von der Hand zu weisen, man kann es auch auf der Facebook Seite nachlesen, das sich auch viele Menschen unter 50, 30 oder 20 dieser Bewegung anschließen. Dramatisch fand ich allerdings die vielen Texte nach dem Motto: „Sarah, du bist die tollste, aber was die Flüchtlinge betrifft, musst du nicht so Rumeiern, die gehören einfach abgeschoben und in ihre Heimatländer zurückgebracht“.

Das alte Modell der Parteien-Demokratie ist im Absterben

Und schließlich: Ja, die Parteiendemokratie der alten Version ist im Absterben begriffen (siehe Mitgliederzahlen), und es ist dringend nötig neue Organisationsformen der Partizipation und Emanzipation zu suchen und zu praktizieren. In den USA ist dies nach dem überraschenden Nominierung-Wahlkampf des „demokratischen Sozialisten“ Bernie Sanders, der nur durch Intrigen und Wahlfälschungen der Parteiführung der Demokratischen Partei gescheitert ist, und schließlich erst recht nach dem überraschenden Sieg von Donald Trump vor allem im „Womens March" erkennbar. Unter völlig anderen parteipolitischen Strukturen als in Deutschland hat sich dort seit den Tagen Martin Luther Kings eine Kultur der Graswurzel-Bewegungen entwickelt, die sich aber - anders als in Deutschland- immer wieder zu wichtigen Anlässen in Märschen nach Washington vereint haben.

Wir brauchen den Zusammenschluss der Mehrheit der Minderheiten

Auch der Wahlsieg Barack Obamas war seinerzeit erklärt worden als die organisierte “Mehrheit der Minderheiten“ , also nicht der Revitalisierung einer vermeintlichen Arbeiterklasse, sondern des Bündnisses der unterschiedlichsten Bewegungen und diskriminierten Minderheiten. Viele Erfahrungen aus den USA hat auch die Graswurzelbewegung „Momentum“ der englischen Labour-Partei übernommen: das Storytelling, also das Begründen politischer Positionen aus dem eigenen biografischen Erleben heraus, die Hausbesuche, die direkte Ansprache der Wählerinnen und Wähler über SMS, Telefonate und viele Kleinstversammlungen.

Aktionsformen die übrigens auch in der Linkspartei schon vor mehr als 10 Jahren unter dem Stichwort „linksaktiv“ nicht ohne Erfolg ausprobiert wurden. Dass dieses Modell schnell wieder ein gestampft wurde, hängt sicherlich nicht nur mit der Zentrale sondern auch der Eifersucht der Real existierenden Basisorganisationen und Kreisvorstände zusammen.

Auch der schnelle Aufstieg, und Fall der Piratenpartei hinterlässt eine Fülle von Erfahrungen, in welche Richtung Partizipation der Parteimitglieder gehen könnte. Die Bewegung Podemos in Spanien und auf ganz andere Weise Syriza in Griechenland versuchen solche Formen aufzunehmen.

Niemals aber, weder in den USA oder England noch in Südeuropa sind das experimentieren mit neuen Beteiligungsformen Top-down , sondern immer auf der Grundlage real existierender Basisbewegungen.

Die Solidarität mit den vor allem 2015 nach Deutschland gekommenen Flüchtlingen wie auch die ganz nagelneue Bewegung #seebrücke sind Bewegungen, die zunächst nur zu einem Thema aktiv werden aber Millionen von Menschen erfasst haben. Dass ausgerechnet auf diesen Sektor das Projekt „aufstehen.de“ dezidiert sich gegen "grenzenlose Willkommenkultur" ausspricht, scheint mir eines der Gründe, warum die Bewegung ganz sicher nicht mehr wie eine Stichflamme sein wird.

Das 20. Jahrhundert stand im Zeichen des „entweder-oder“: Arbeiterklasse oder Kapital, Sozialismus oder Barbarei hießen zum Beispiel solche Gegensatz-Paare. Dieser Geist weht durch die Texte von „aufstehen.de“

Es ist meine feste Überzeugung, dass das 21. Jahrhundert unter die Überschrift stehen wird „sowohl-als-auch“, sowohl soziale wie auch Probleme der Identitäten, sowohl Arbeiterbewegung wie auch neue soziale Bewegung, sowohl die alternativen Milieus in den Großstädten als auch die Vertretung der Interessen der Präkarisierten und der Menschen die sich im Stich gelassen fühlen oder aus ihrer Heimat vertrieben.

Die Losung 99 % der Occupy- Bewegung symbolisiert für mich dieses Konzept der „Mehrheit der Minderheiten“. Das in 3. Generation auf gebackenem Modell des einst so erfolgreichen „Krefelder Appells“ ist längst von der individualisierten Bedürfnisstruktur unserer modernen Gesellschaften überholt.

Mit der großen Begeisterung des gestrigen Chemnitzer Konzerts #wirsindmehr freue ich mich auf die bundesweite Großdemonstration #unteilbar am 13. Oktober um 13:00 Uhr in Berlin. Das sind Orte an denen ich gerne aufstehe und mehr denn je voller Hoffnung bin, dass sie eine Veränderung bewirken werden.

Der Text erschien zuerst bei www.mathisoberhof.wordpress.com

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

MathisOberhof

Autor des Buches : REFUGEES WELCOME - Geschichte einer gelungenen Integration - So können Sie Flüchtlingen helfen - Ein Mutmachbuch", verh., 3 Söhne,

MathisOberhof

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