Ramelows Gedanken zu Stasi und Gestapo

Antistalinismus Bemerkungen von Bodo Ramelows zur Struktur des MfS und der Gestapo auf einer Marburger Veranstaltung gegen Berufsverbote lösten heiße Debatten aus. Mein Beitrag:

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Vorbemerkung:

Als ich am Morgen des 17. November 2014 das erste Mal ins Freie trat, sah ich am Himmel "Die Kraniche ziehen". Und überlegte, ob es zwischen diesen Zeichen des Himmels und meinem heutigen Thema einen Zusammenhang gäbe.
"Die Kraniche ziehen" ist ein weltberühmter sowjetischer Film aus dem Jahre 1957. Der Regisseur Michail Kalatosow, der unter Stalin acht Jahre Drehverbot hatte, gilt als Pionier des sowjetischen Spielfilms. Sein zweitbekanntester Film "Ich bin Kuba", lag 30 Jahre lang verschlossen in den Filmarchiven der UdSSR. Als er nach der Wende internationale Furore machte, bezeichneten Filmkritiker die Art und Weise, wie Kalatosow Filme dreht, als eine, "die die Augen öffnet".

Die Augen öffnen! Kalatosows Kameramann soll sich vor dem Drehen neuer Aufnahmen die Augen verbunden habe, um anschließend die Realität besser sehen zu können.

Die Kraniche ziehen! Es ist Zeit, die Augenbinde abzunehmen.

Vorbemerkung II: Auch in einem anderen Themenbereich, als der stalinistischen und Stasi-Vergangenheit sieht sich die Linkspartei in der heutigen Presse aufgefordert, die Augen nicht mehr zu verbinden. Markus Decker, intimer Kenner und Kommentator der Vorgänge in der Linkspartei, fordert in einem Kommentar der Berliner Zeitung, dass sich die LINKE von solchen Abgeordneten trennen solle, die wie Ingrid Höger und andere mitverantwortlich sind dafür, dass der Sohn kommunistischer Juden, Gregor Gysi, von fanatischen Israel-Kritikern bis aufs Klo seines Bundestagsbüros verfolgt wurde. Sein Kommentar endet mit den Worten: "Sie (die LINKE, M.O.) verliert ihre Selbstachtung. Und sie verliert ihre intellektuelle und moralische Attraktivität, wenn sie Leute für sich sprechen lässt, denen jede intellektuelle und moralische Integrität fehlt."

Die Kraniche ziehen! Es ist Zeit, die Augenbinde abzunehmen.

Haupt-Teil:

Nun erschüttert eine Zeitungsmeldung die Seele vieler Mitglieder oder Anhänger der Linkspartei ("alten Schlages"). Das ungeheuerliche ist passiert: Bodo Ramelow hat auf einer Veranstaltung "gegen Berufsverbote und Verfassungsschutzspitzelei" am Ort seines ersten politischen Wirkens, im roten Marburg, diesen Satz gesagt:

"Die Grundstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit war wie die Gestapo angelegt".

In den Kommentaren zu diesen Zeitungsartikeln, wie auch in den sozialen Medien geht das zu erwartende Donnerwetter los. Endgültig habe er sich demaskiert, um seine Regierungsfähigkeit zu beweisen, habe Ramelow die DDR mit dem Nationalsozialismus gleichgestellt.

Die Thüringer Zeitung berichtet von der Marburger Veranstaltung mit folgenden weiteren Sätzen: "Ein Vergleich, den Ramelow sofort einhegt, da er "Relativierungen" vermeiden will. So habe die DDR-Regierung im Gegensatz zu den Nazis keine Massenmorde begangen und auch keine anderen Staaten überfallen."

Aber diese Feinheiten interessieren unsere Ramelows-Kritiker nicht. Wenn er die Struktur des MfS mit jener der Gestapo vergleicht, hat er die Todsünde begangen: die Nazidiktatur und die Diktatur des SED-Politbüros auf eine Stufe zu stellen.

Im Interview mit dem Spiegel, dass heute an den Kiosken ausliegt sagte Ramelow noch einen anderen wichtigen Satz, der vielleicht die Begründung zur oben genannten Aussage liefert: "Dass mit meiner Kandidatur bei manchen Opfern eine Retraumatisierung eingesetzt hat, nehme ich sehr ernst"


Was heißt Re-Traumatisierung?

Es heißt, alte Wunden werden wieder neu aufgerissen.

Hinterbliebene der mindestens 400 Anfang der Fünfzigerjahre im Prozess der "Bolschewisierung" der SED zu Tode gekommenen Sozialdemokraten erinnern sich der Gräuel, die ihren Vätern und Müttern, Omas und Opas angetan wurde.
Verwandte und Überlebende aus dem Kreis der ca. 100.000 aus der DDR nach Westen geflüchteten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten denken wieder an die Umstände, die sie damals aus ihrer Heimat vertrieben.

Angehörige der ca. 20.000 (!) nach Adenauers Moskau Besuch im Jahr 1956 aus Sibirien wieder heimgekehrten politischen Gefangenen aus dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone/DDR, denken zurück an die Berichte der Gulag-Überlebenden, den Hunger, die Kälte, die Sinnlosigkeit des Sterbens, die Gewalttätigkeit und Willkür der "sowjetischen Stasi", des NKWD.

Und viele 100.000ende von DDR-BürgerInnen, vielleicht geht die Zahl in die Millionen, erinnern sich an ihre persönlichen Kontakte mit schmierigen, fiesen, angsteinflößender Vertretern der Firma "Horch und Guck". Nachdem sie einen Ausreiseantrag gestellt hatten, als irgend ein Familienmitglied von ihnen "rüber gemacht" hatte, oder vielleicht nur nachdem ein Onkel oder eine Tante aus dem Westen zu Besuch war.

(Ach ich weiß es doch, dass es auch andere MfS-Mitarbeiter gab, jene denen die Fernsehserie "Weißensee" im General Kupfer so ein bemerkenswertes Denkmal gesetzt hat. Aber das nützt den Menschen nichts, die von den anderen bedroht, diskriminiert, gemobbt und an ihrem beruflichen Fortkommen gehindert wurden. Und natürlich weiß ich erst recht das viele IM selbst Opfer der Stasi waren und nur durch Erpressung ihre Unterschrift unter die Verpflichtungserklärung gesetzt haben. Auch das wird mehr als deutlich in Filmen wie "Weißensee").

Für alle Zeiten wird es schwer bleiben, die Mehrheitsverhältnisse von Anhängern, Mitläufern und Gegnern eines Sozialismus, der sich auf Mauer und Stasi glaubte, stützen zu müssen, zu beziffern.

Aber eins bleibt für immer wahr: nach 40 Jahren DDR, Parteilehrjahr für 2 Millionen SED-Mitglieder, politische Agitation und Propaganda hatten sich bei den ersten freien Wahlen, die gleichzeitig die letzten in der Existenz der DDR waren, zur Volkskammer 1990 nur noch ganze 16,4 % zur Politik der der demokratisch gewendeten SED-Nachfolgepartei, der PDS bekannt.

Aus vielerlei Gründen hat sich dieser Stimmenanteil bei der letzten Landtagswahl in Thüringen für die heutige Linke fast verdoppelt. Dennoch sind es nur ein Drittel der abgegebenen Stimmen, nur 15 % aller stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger.

Wer nun und künftig in der ersten Landesregierung unter Leitung eines linken Ministerpräsidenten Politik für die Mehrheit der Bevölkerung machen will, der darf nicht, aus Rücksicht auf jene, die sich mit Begriffen wie "Unrechtsstaat" oder den "Vergleichen der Struktur von Stasi und Gestapo" ihrer Biografie beraubt fühlen, die "Re-Traumatisierung" der Opfer vergessen.

Wer dem militanten Antikommunismus eines selbstgerechten Bundespräsidenten Gauck (siehe dazu den SPIEGEL-Kommentar) und eines verhärmten, verbitterten und ausgebrannten Exkommunisten Wolf Biermann eine glaubwürdige linke Alternative des Anti-Stalinismus entgegensetzen will, der kommt um diese bittere Wahrheiten nicht herum:

  • es sind mehr führende Kommunisten der KPD in Moskau und Sibirien ermordet worden, als in Hitlers KZ (Quelle)
  • den ca. 10.000 von den Nazis ermordeten KommunistInnen steht eine noch immer nicht zu Ende gezählte Anzahl von in sowjetischen Lagern und Gefängnissen ermordeten deutschen Antifaschistinnen und Antifaschisten gegenüber. Der international renommierte Stalinismus-Forscher Wladislaw Hedeler geht von mindestens 6000 Todesopfern dieses Personenkreises aus.
  • Und schließlich die unvorstellbar große Anzahl von knapp 3 Millionen Menschen, die dieser Zeit die sowjetischen Besatzungszone/DDR in Richtung Westen verlassen haben.

20 % der Gesamtbevölkerung! Natürlich gab es auch "unpolitische" Beweggründe, Schulden, kriminelle Delikte, Beziehungs-Probleme oder anderes.

Aber, bevor jemand Haus und Hof, Heimat und Freunde, Hausrat und Verwandte zurücklässt, muss schon ziemlich viel passieren.

Viele dieser 3 Millionen Menschen leben noch. Allemal ihre Kinder und Enkel.

Wer sich verantwortlich fühlt für eine Linksentwicklung in Deutschland, dafür, dass der Mensch und nicht der Profit in den Mittelpunkt des Wirtschaften gestellt wird, dafür, dass weder Krieg noch der Export von Kriegsgütern ein Mittel der Außen – und Außenhandelspolitik sein darf, der darf sich den Gefühlen dieser Menschen nicht verweigern.

Schlimmer noch: wenn sich die LINKE in der Weise ihrer Geschichte stellt, wie Bodo Ramelow es jetzt vormacht, dann werden noch viele furchtbare Einsichten von ihr verlangt.

Aber nur so, in der schonungslosen Erkenntnis der Gräuel und der Fehler der Vergangenheit, kann es gelingen, eine Mehrheit zu gewinnen für eine Zukunft in Gerechtigkeit und Frieden.

Die Kraniche ziehen! Zeit, die Augenbinde abzunehmen.

Danke, Bodo Ramelow!

*******************************************************

Wer mehr Fakten zum Vergleich von Stasi und Gestapo lesen will: schon 1993 listete der Spiegel diese auf:http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-55475506.html

*********************************************************

UPDATE 17:36 am 17.11.2014: Der Sturm muß sehr groß gewesen sein. Heute nachmitag hat Bodo Ramelow und die LINKEN-Landesvorsitzende Susanne Hennig-Wellsow nachstehende Erklärung auf die Landes-Web-Seite gestellt, in der eine Gleichsetzung von DDR und Hitler-Deutschland dementiert wird. Das hatte er ja auch in Marbug nicht getan. Er hatte auch nicht Stasi und GESTAPO in toto gleichgesetzt. Sein Marbuger Zitat hat er (glücklicherweise) nicht zurück genommen. Die Debatte geht weiter...

"Verbrechen des NS-Staates stellen ein in der Geschichte einmaliges Menschheitsverbrechen dar

Zu den heutigen Berichten zu einer Veranstaltung in Marburg zum Thema "Verfassungsschutz, Bespitzelung und Berufsverbote von 1972 bis heute " unter Teilnahme von Bodo Ramelow erklären die Landesvorsitzende der Thüringer LINKEN, Susanne Hennig-Wellsow und der Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Thüringer Landtag, Bodo Ramelow:

Eine Gleichsetzung von Staatssicherheit in der DDR und Gestapo verbietet sich. Die Gestapo war das konstitutive Element der Menschheitsverbrechen der Nazis. Die Singularität der Shoa ist unzweifelhaft. Einer Relativierung der nationalsozialistischen Mordmaschinerie werden wir in aller Entschiedenheit weiter begegnen. In der Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte ist jeglicher Bezug auf die menschenverachtenden Verbrechen während der NS-Herrschaft unangemessen. Wir haben immer klar gesagt, dass jeglicher Vergleich und erst recht jegliche Gleichsetzung von DDR und NS-Herrschaft ausgeschlossen sind. Die Verbrechen der Nazis sind in ihrer historischen Dimension einmalig. Sechs Millionen ermordete Jüdinnen und Juden, der Völkermord an hunderttausenden Sinti und Roma, die Tötung von über drei Millionen Kriegsgefangenen, die Verfolgung und Ermordung von politischen Gegnern, von Schwulen und Lesben, von Menschen mit Behinderungen oder sogenannten "Asozialen", all dies ist für uns ewige Mahnung und wird durch niemanden relativiert werden. Die Feststellung, dass es in der DDR keine Trennung geheimdienstlicher Arbeit und polizeilicher Befugnisse gegeben hat, ist keine Relativierung der Verbrechen des NS-Staates, selbst wenn dieser eine solche Trennung auch nicht vornahm. Die Verbrechen des NS-Staates stellen ein in der Geschichte einmaliges Menschheitsverbrechen dar."

Dieser Text erschien zuerst bei www.oberhof.blog.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

MathisOberhof

Autor des Buches : REFUGEES WELCOME - Geschichte einer gelungenen Integration - So können Sie Flüchtlingen helfen - Ein Mutmachbuch", verh., 3 Söhne,

MathisOberhof

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden