Das Herz ist links

Porträt Luciana Castellina verfolgt auch mit 86 Jahren noch das schönste revolutionäre Ziel: Freiheit mit Gleichheit zu versöhnen. Die große Genossin im Gespräch
Ausgabe 27/2016

Sie galt als die sinnlichste Frau der italienischen Linken. Heute, mit 86 Jahren, wirkt Luciana Castellina nicht weniger beeindruckend: In der grünen Seidenbluse, die Haare frisch getönt, mit goldenem Ring und Halskette sieht sie aus wie eine durch und durch bürgerliche Dame. An diesem Abend ist sie ins Italienische Kulturinstitut in Berlin gekommen, um davon zu erzählen, wie sie Kommunistin wurde. Ihre Stimme klingt heiser. Nach ihrem Auftritt schüttelt sie trotzdem noch geduldig Hände, manche Zuhörer sagen einfach nur bewegt „Grazie“. Dann nimmt sich Luciana Castellina noch Zeit für ein Gespräch.

der Freitag: Frau Castellina, Sie können ja wunderbar Deutsch. Woher kommt das?

Luciana Castellina: In den 30er Jahren wurden die Kinder aus vielen bürgerlichen Familien den „Fräulein“ anvertraut, deutschen oder österreichischen Kindermädchen. Ich hatte auch mehrere von ihnen, und so habe ich Deutsch gelernt. Als dann der Krieg kam, ich war ungefähr zehn Jahre alt, sind die Fräulein nicht mehr gekommen. Ich bin also mit meinem Kinderdeutsch zurückgeblieben, mit vielleicht 200 Wörtern. Genug, um mich verständlich zu machen, aber nicht, um jemanden zu verstehen, der mit mir Deutsch spricht.

Ihre Schulkameradin war Anna Maria Mussolini, die Tochter des Duce. Wie war sie?

Sie war sympathisch, unverfroren, intelligent – und sie konnte arrogant sein. Wenn sie eine aus ihrer Sicht unfaire Note bekam, wurde sie aggressiv. Wir haben bei ihr zu Hause, in der Villa Torlonia, oft zusammen gespielt. Dann kam der 25. Juli 1943.

Der Tag, an dem der Diktator gestürzt wurde.

Ja, ich erinnere mich genau. Ich war in Riccione und spielte mit Anna Maria Tennis. Wächter kamen und nahmen sie mit. Mussolini wurde festgenommen. Später, nach dem Krieg, habe ich Anna Maria noch mal wiedergesehen, sie war sanfter geworden.

Wie empfinden Sie die Lage im Europa von heute? Franzosen zum Beispiel gehen auf die Straße, um sich gegen die Prekarisierung der Arbeitswelt zu wehren. Die Italiener trifft es genauso, nur sind die viel ruhiger. Warum?

Dass es in Italien keinen Kampf oder keine Demonstrationen gibt, stimmt nicht. Unsere Gesellschaft ist sehr dynamisch, aber auch sehr fragmentiert. Vor allem hat die Linke eine schwere Niederlage erlebt, sodass es schwer geworden ist, wieder eine Bewegung zu werden. Die Parteien sind zerstritten, hegen Groll gegeneinander, alle sind gespalten. Dieser französische Moment ist wirklich interessant, ich habe nur Angst, dass er rasch vergeht. Die Franzosen sind in der Lage, große Explosionen zu verursachen, aber sie sind so kurz. Wie damals im Mai 1968: Drei wunderbare Monate folgten – dann war es vorbei. Bei uns in Italien hat der Mai 68 zehn Jahre gedauert.

1990 hat sich die PCI aufgelöst, eine Partei, die zwei Millionen Mitglieder hatte.

Sie hat eine große Leere hinterlassen. Es war ein Trauma. In nur einem Jahr sind 800.000 Militante einfach verschwunden aus der politischen Sphäre, das führte in Italien zum Phänomen des „Antipolitischen“ und zum relativen Niedergang der Parteien. Man kann das auch in anderen Ländern beobachten, es ist dramatisch. In dieser Leere hat jetzt eine Bewegung wie das Movimento 5 Stelle einen Ort gefunden.

Da geht es vor allem um den Protest gegen die Etablierten.

Ja, ein bisschen so wie die Rechten in Frankreich oder die Linken in Spanien. In Italien war das Gewicht der historischen Linken immer-hin noch groß genug, und die Rechte ist zu schwach.

Sie wollten eigentlich Malerin werden, richtig?

Ja, die Malerei war meine große Leidenschaft in der Jugend, und durch sie habe ich mich der Politik genähert. Nach dem Krieg waren die jungen Maler sozial und politisch sehr engagiert, vor allem in Italien, fast alle jungen Künstler waren Kommunisten, und viele der Bilder sind in den Büros der PCI entstanden. Die Debatten über Filme und Kunst fanden auf den Seiten der Tageszeitung L’Unità statt. Ich habe dann mit dem Malen aufgehört, kurz nachdem ich mich in der Partei eingeschrieben hatte, weil ich mich sofort und intensiv nur politischen Aktivitäten widmen wollte. Immerhin war die erste Sache, um die mich die Partei dann bat, eine Konferenz über Kubismus.

Wie haben Sie die Männer dort erlebt? Sind Kommunisten auch Machos?

Sie haben sich an der Spitze ja sehr mit der Frauenfrage beschäftigt. Ich war erstaunt, als ich im Europaparlament angekommen bin und wir ein Treffen mit Frauen aus verschiedenen anderen Ländern veranstaltet haben: In Italien gab es viele Frauenrechte, die die anderen nicht hatten. Wir haben es seit 1956 geschafft, dass alle Frauen, die ein Kind erwarten, sechs Monate bezahlte Elternzeit bekommen. Auch die Gewerkschaften waren keine reinen Männerbetriebe, sie waren politisch und haben sich auch um gesellschaftliche Themen und Frauenbelange gekümmert.

Manche Ihrer Genossen nannten Sie „unser Freund Lucianina“: eine Frau, mit der man nicht so leicht flirten, aber sehr gut diskutieren kann.

Ja, die Frauen sollten dieselben Rechte haben wie die Männer, sie sollten aber auch genauso wie Männer sein. Deswegen dachte ich sogar daran, meine Brüste zu verstecken, damit man nicht entdeckt, dass ich etwas Eigenes bin. Im Feminismus wurde später die Differenz betont.

Als 1968 die sowjetischen Panzer in Prag einrollten, kritisierten Sie das Schweigen Ihrer Partei und wurden rausgeworfen.

Ja, wenn ich daran denke, macht mich das nostalgisch. Wie sie mich hinausgeworfen haben – das war bemerkenswert. Denn es gab eine große Diskussion, es war für viele erschütternd. Damals hat jedes Wort eine Rolle gespielt. Heute kannst du in den Parteien sagen, was du willst, aber es ist total egal. Es gibt einen Leader, der spricht im Fernsehen, und deine Stimme wird nicht gehört.

Spielen Sie auf Matteo Renzi an?

Renzi hat die Demokratie auf eine Umfrage reduziert – eine Umfrage zu dem, was er tut und entscheidet. Früher hatten Politiker Werte, sie waren Männer von Welt. Heute ist alles viel technischer, sie operieren wie Manager. Politik beschränkt sich auf Verwaltung. Das hat mit der Dominanz der Ökonomie zu tun. Es gibt keine Partei mehr, die für gemeinsame Arbeit, soziale Erfahrungen, Nähe zu den Wählern steht. Es geht nur darum, wer das meiste Geld für den Wahlkampf ausgeben kann. Wo wird Politik heute zuallererst wahrgenommen? Im Fernsehen.

Wie einst im Mai

Sie ist Journalistin und Schriftstellerin, aber vor allem eine kämpferische Politikerin und seit den 60er Jahren eine führende Persönlichkeit der italienischen Linken. Geboren wurde Luciana Castellina im August 1929 in Rom, als Tochter eines Milaneser Geschäftsmanns und einer Jüdin aus Triest. Luciana wuchs in einem bürgerlichen Viertel auf.

Im Sommer 1944 bekam sie von der Mutter und der Großmutter des Regisseurs Nanni Moretti Nachhilfe in Mathematik und Latein („Größere Antifaschisten als meine eigene Familie!“). Schon mit 15 interessierte sie sich für Kino und Malerei und geriet so ins Umfeld linker Zirkel und Gruppen. 1947 trat sie in die Kommunistische Partei Italiens ein. Wegen Protestdemonstrationen saß sie mehrmals im Gefängnis. 1969, als sie zusammen mit Lucio Magri, Aldo Natoli, Valentino Parlato, Luigi Pintor und Rossana Rossanda die Zeitung il manifesto gründete (das Vorbild für taz und Libération), wurde sie aus der Partei ausgeschlossen. Aber Castellina machte weiter politische Karriere. Sie rief die Partito di Unità Proletaria per il Comunismo (PdUP, Partei der proletarischen Einheit für den Kommunismus) mit ins Leben und war von 1979 bis 1999 Abgeordnete im Europäischen Parlament. Mit La scoperta del mondo,ihren Tagebüchern, in denen sie ihre Politisierungsphase im Alter zwischen 14 und 18 Jahren beschreibt, war sie 2011 in Italien für den Literaturpreis Strega nominiert. Vergangenen Mai ist das Buch auch auf Deutsch erschienen (Die Entdeckung der Welt,Laika-Verlag, 216 S., 21 €).

Luciana Castellina ist auch mit ihren fast 90 Jahren noch ständig unterwegs und in Italien bis heute eine gefragte politische Kommentatorin. Sie hat zwei Kinder und lebt in Rom.

Sie unterstützen DiEM25, die von Yanis Varoufakis ins Leben gerufene europäische Bewegung. Sind die herkömmlichen Parteien nicht mehr der Ort für politisches Handeln?

Vor allem in den Dörfern ist das noch eine lebendige italienische Tradition. Da trifft man sich in dem Lokal, in dem man auch Abend essen geht, und debattiert wie eh und je. Jemand sagt: Wenn du nicht in die Partei gehst, wird sich dein Großvater im Grab um-drehen! Das sitzt tief, es gehört einfach zum Leben. Doch in den großen Städten verliert sich diese Bindung an Parteien mehr und mehr. Viele Menschen sind Pessimisten geworden, weil erst die PCI und dann im Grunde die italienische Linke kaputtgegangen ist. Sie haben die Hoffnung verloren.

Was bedeutet heute Linkssein?

Für mich heißt es, weiter für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der etwas möglich sein wird, das weder die Französische noch die Russische Revolution geschafft haben, und zwar: Freiheit mit Gleichheit zu versöhnen. Diese beiden Dinge sind die schönsten. Mit dieser Idee bewahre ich den italienischen Kommunismus, den von Antonio Gramsci.

Machen Frauen anders Politik?

Frauen haben oft eine größere Fähigkeit, Dinge im Gesamten zu überblicken. So wie Angela Merkel. Ich finde sie sympathisch – auch wenn ich in vielem nicht mit ihr einverstanden bin. Aber sie ist eindeutig besser als Schäuble. Manche Frauen sind allerdings auch ganz schrecklich, auch einige in der italienischen Regierung. Es gibt ja Statistiken: Je weiter es nach oben geht, desto weniger Frauen sind in führenden Positionen. Aber wir haben eine Mehrheit der Frauen in der Richterschaft, viele in der Forschung. Ich war eine von denen, die darum gekämpft haben, dass Frauen Karriere machen können – und eine Pause, wenn sie ein Kind erwarten.

Aber Italienerinnen bekommen doch kaum noch Kinder.

Ja, das stimmt. Und es hat mit dem Anstieg der prekären Arbeit zu tun. Die Bedingungen verschlechtern sich für alle jungen Leute. Frauen im gebärfähigen Alter sind die Ersten, die rausfliegen.

Im Vorwort zu Ihren Tagebüchern schreibt Ihre Tochter, es sei ihr im Italien der 70er Jahre zu eng geworden.

Meine Tochter war eine 68erin, ein sehr explosives Temperament – mit einem Vater, der einer der Dirigenten der Partei war, und einer Mutter, die von ihr ausgeschlossen wurde. Mit 14 Jahren hat sie sich für eine extreme Gruppe entschieden, die Potere Operaio, die Arbeitermacht. Sie hat sich davon aber schnell entfernt, als sie zur Universität kam, sie ging mit einem Stipendium in die USA. Mein Sohn hat nur noch das Ende dieser 68er-Zeit erlebt, auch er ging nach bald nach New York, zur Columbia-Universität. Seitdem haben sie beide kaum noch an politischen Debatten in Italien teilgenommen. Sie würden sich beide nicht links nennen, aber bestimmte Werte sind ihnen wichtig, ethische mehr als strikt politische.

Was konnten Sie umgekehrt von Ihren Kindern lernen?

Einmal hat mich meine Tochter gefragt: Warum gehst du nie mit einer Frau Abend essen, sondern immer nur mit Männern? Und das stimmte. Es kam mir gar nicht in den Sinn, dass ich mit einer Frau allein essen gehen könnte. Das meine ich: Ich war es so gewohnt, wie ein Mann zu agieren. Wenn ich etwas tat, dann mit Männern. Obwohl ich eine Frau war!

Sie waren mit Alfredo Reichlin verheiratet, einem Partisanen. Muss der Mann, den Sie lieben, Ihre Ideale teilen?

Aber natürlich, wie soll man mit jemandem zusammenleben, mit dem man nicht dieselben Werte teilt? Aber Liebe ist auch das, was einem im Alltag gefällt. Was man gern isst, wohin man gern reist, oder ob man lieber auch mal auf dem Sofa herumsitzt.

Ja, die Liebe …

... ist das Wichtigste! Das ist die schlimmste Erfahrung, die man macht, wenn man alt wird: dass man sie verliert. Ich würde gern eine neue Liebe finden, aber mit fast 90 Jahren ist das schwer.

Zurück zur gesellschaftlichen Entwicklung: Der Liedermacher Francesco De Gregori sang schon 1979 in seiner Hymne „Viva l’Italia“, das Land sei von den Zeitungen getötet worden.

Ja, er redet von den Blättern, die der Macht dienen und nicht der Wahrheit. Eigentlich gibt es keine unabhängigen Zeitungen mehr in Italien, sie gehören alle zu großen Eigentümergruppen, es gibt keine Kooperativen, sondern Besitzer. Im Grunde ist nur ein Blatt noch unabhängig: meines, il manifesto.

„Oma, stimmt es wirklich, dass du Kommunistin bist?“, hat Ihr Enkel Vito Sie einmal gefragt. Als wäre das eine Anomalie.

„Ja, und Opa ist auch Kommunist“, habe ich geantwortet. „Aber das kann nicht sein, er ist ein ehrenwerter Mann!“, sagte Vito. In Italien gibt es einen grausamen Bruch zwischen den Generationen. Sie löschen die Erinnerungen aus. Wenn ich heute mit jungen Leuten spreche, kommt es mir vor, als würden sie sagen: „Alte, hör auf zu reden, du hast so viele Sachen falsch gemacht“. Man will nichts mehr wissen von früher. Man sitzt in den meisten Familien auch nicht mehr zusammen am Abendbrottisch. Also habe ich mich entschieden, eine Partei der Großmütter und Großväter zu gründen.

Eine Art politisches Gedächtnis?

Ja, und ich habe auch schon recht viele Anhänger. In den Augen der Jugend war das 20. Jahrhundert wohl der reinste Horror. Aber es war eben auch eines der großen Schlachten und politischen Eroberungen. Der Philosoph Giorgio Agamben hat einmal gesagt: Man muss Archäologe sein, um die Zukunft zu verstehen. Ich möchte der Erinnerung eine Stimme geben und zeigen: So wie wir damals die Welt verändert haben, so kann es die Jugend heute auch.

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