Hartnäckig hält sich die Legende, ein italienischer Journalist hätte vor 30 Jahren mit einer einzigen Nachfrage die Mauer geöffnet. Natürlich weist der Journalist das bescheiden zurück. „Journalisten fragen eben.“ Aber manchmal sind die Verhältnisse so verrückt, dass dann eine flüchtig hingesagte Antwort, ein einziges Wort Weltgeschichte schreibt. Und Mauern, die noch hundert Jahre stehen sollten, zum Einstürzen bringt.
Riccardo Ehrman sitzt in seiner Wohnung in der Madrider Altstadt und erinnert sich, wie das damals, am 9. November, war. An der Wand hängen Bilder von der Museumsinsel, man kann die Spree sehen. Auf dem Tisch steht eine Schale aus Meissener Porzellan. Erinnerungen an seine Zeit als Korrespondent in Ostberlin.
Ehrman trägt ein hellblaues Hemd, auf dem seine Initialen eingenäht sind, R. E., um den Hals ein lilafarbenes Seidentuch. Ein in die Jahre gekommener, ehrwürdiger italienischer Signore. Am Wohnzimmerregal lehnt eine Krücke, Ehrman kann nicht mehr gut laufen, vor ein paar Tagen ist er 90 geworden. „Gehen die Batterien des Hörgeräts noch?“, fragt seine Frau. „Si, si.“
An jenem 9. November, erzählt Ehrman, ging er wie fast jeden Tag ins internationale Pressezentrum, wo Politbüromitglied Günter Schabowski Journalisten Auskunft gab, wie es weitergehen sollte in der DDR. Honecker war abgesetzt, Egon Krenz neuer Parteichef, die Menschen gingen auf die Straße, das System war ins Wanken geraten. Ehrman hatte das alles verfolgt, er war Korrespondent der italienischen Nachrichtenagentur ANSA und hatte eine Menge Erfahrung. Er hatte aus Neu Delhi berichtet, Ottawa, Rom, New York. Er kannte den Papst, den Vater von Justin Trudeau, den kanadischen Premierminister, den Schah von Persien.
Ehrman nimmt ein Schwarz-Weiß-Foto, das auf seinem Tisch liegt, darauf sieht man ihn im Gespräch mit dem Schah und Soraya, es wirkt vertraut. Als sie 1953 nach Rom flüchteten, schickte man ihn, den Novizen, zum Flughafen. „Ich sagte dem Schah, ich könnte dolmetschen und ihm alle Nachrichten, die aus Teheran kommen, ins Hotel bringen: ‚Ja, machen Sie das!‘ “ Es war dann Ehrman, der dem Schah die Nachricht überbrachte, er könne in den Iran zurück.
Manns Kompliment
„Das größte Kompliment meines Lebens bekam ich von einem Deutschen“, erzählt Ehrman. Von Thomas Mann: „Es war die McCarthy-Zeit, Mann wurde wegen seiner Freundschaft zu Brecht vorgeworfen, Kommunist zu sein. Daraufhin hat er Amerika 1952 beleidigt verlassen, kam nach Rom. Bei der Agentur sagten sie zu mir: ,Professore Mann left the USA – go meet him.‘ Ich fuhr ins Grand Hotel, er war gerade mit seiner Frau angekommen. Ich bin in seine Suite gegangen, und wir haben angefangen zu sprechen. Er sagte, er könne niemals ein Kommunist sein. Dann sagte ich ihm, dass ich seine Bücher gelesen habe, vor allen Dingen den Zauberberg,und dass ich mich krank gefühlt habe, wie der Held. ,Ich auch‘, sagte Mann. Es war schon später Nachmittag, seine Frau drängelte. Thomas Mann sagte: ‚Weib, siehst du nicht, dass ich jemanden gefunden habe, mit dem ich sprechen kann?‘ Ich kam dann zurück in die Agentur, schrieb einen längeren Artikel – aber am Ende blieb nur: Thomas Mann ist in Rom angekommen und hat bestritten, dass er Kommunist ist.“
1976 wurde Ehrman das erste Mal nach Berlin gerufen, er hat New York verlassen, um nach Deutschland zu gehen. Er wurde der Korrespondent für Berlin, sollte über die gesamte Stadt schreiben, aber wer aus Ostberlin berichtete, der musste dort wohnen. Ehrman zog in die Karl-Liebknecht-Straße, wohnte am Alexanderplatz. Er fuhr kreuz und quer durch die DDR, redete mit den Leuten. „Zweimal habe ich auch persönlich mit Erich Honecker gesprochen, das war in Leipzig während der Messezeit. Niemand meiner anderen Kollegen hat das versucht“, sagt er. Er fand Honecker nicht besonders schlau.
Korrespondenten durften nicht länger als ein paar Jahre an einem Ort sein, Ehrman war bis 1982 in Berlin, dann schickte ihn seine Agentur nach Indien, Neu Delhi. Drei Jahre später rief die Zentrale aus Rom an, es fehle jemand, der Deutsch könne, ob er zurückkommen wolle. Ehrman wollte.
Es war ein angenehmes Leben für einen italienischen Korrespondenten in Berlin. Er konnte im Osten und Westen klassische Konzerte besuchen, traf Herbert von Karajan, Riccardo Muti, Claudio Abbado.
In seinem Wohnzimmer steht ein Klavier, er habe versucht zu spielen, aber seine Hände seien zu klein. Er lebte unter den Bonvivants der Ostberliner Kulturszene und in der bürgerlichen Westwelt. Der Dramatiker Heiner Müller kam zum Spaghettiessen, „seine erste Frage war immer: ‚Wo ist meine Flasche?‘ “ Sie hatten sich damals über Klaus Gysi kennengelernt. „Heiner war sehr stolz, ein DDR-Bürger zu sein. Bei uns ist keiner arbeitslos, sagte er häufig.“
Als die Grenze aufging
Nach langem Drängen der Bevölkerung hatte die SED-Führung am 6. November den Entwurf für ein Reisegesetz veröffentlicht, vom dem sie aber zunächst nur einen Teil – die Regelung für die Ausreise ohne Rückkehrrecht – in Kraft setzen wollte. Damit sollte der anhaltende Ausreisestrom über die ČSSR gestoppt werden. Unter dem Druck der anhaltenden Demonstrationen war die Regelung danach noch einmal überarbeitet worden. Sie enthielt nun auch eine Besuchsregelung: Ein Visum für Privatreisen mit Rückkehrrecht sollte künftig ohne besondere Voraussetzungen und Wartezeiten ausgestellt werden.
Als Günter Schabowski darüber informierte, wurden die Folgen vollkommen falsch eingeschätzt. Das Politbüro glaubte, die Leute würden ordnungsgemäß an den Meldestellen der Volkspolizei ihre Ausreise beantragen. Weder die DDR-Grenzer noch die Volkspolizei waren informiert oder bekamen Dienstanweisungen. Vor allen Dingen die Sowjetunion wusste von nichts, aus Moskau kamen fassungslose Anrufe, was los sei. Nachdem die ARD die Schabowski-Äußerung um 20 Uhr unter der Schlagzeile „DDR öffnet die Grenze“ verbreitet hatte, versammelten sich vor den Übergangsstellen nach Westberlin mehr und mehr Ostberliner. Um den Druck der Massen zu mindern, ließen die Posten am Grenzübergang Bornholmer Straße die ersten DDR-Bürger ausreisen. Zunächst wurden die Personalausweise einbehalten, was einer Ausbürgerung gleichkam. Gegen 23.30 Uhr wurde der Grenzübergang an der Bornholmer Straße dann endgültig geöffnet
Es gab eine kleine jüdische Gemeinde in Ostberlin, zwar keinen Rabbiner, aber einen Kantor, der jeden Samstag eine Zeremonie in der Synagoge in der Rykestraße geleitet hat, erzählt Ehrman. Da ging er hin. Ehrman ist Jude, wenn auch nicht sehr religiös. Aber die großen Feste bedeuten ihm viel. Er stammt von polnischen jüdischen Eltern aus Lemberg ab, die in den 20er Jahren nach Italien kamen, während zu Hause der antisemitische Hass neue Qualitäten erreichte. Die Eltern kehrten von ihrer Hochzeitsreise in die Toskana nicht zurück. „Und sie haben das gut gemacht, weil von der ganzen Familie in Polen nicht einer übrig geblieben ist.“ Ehrman wuchs in Florenz auf. 1938 wurden in Italien die Rassengesetze erlassen. Der Junge und seine Eltern kamen ins Konzentrationslager in Kalabrien. „Ich war 13, aber ich erinnere mich nicht an Misshandlungen. Es gab nur wenig zu essen. Aber die kalabrische Bevölkerung hat uns geholfen, mit Eiern und Brot – und die Faschisten standen auf der anderen Seite des Zauns und haben zugesehen. Bei der SS wäre das sicher anders gelaufen.“ Seine Familie hat überlebt.
In dieser jüdischen Gemeinde fühlte sich Ehrman wohl. Der Kantor wurde sein Freund. Er konnte sich irgendwie zu Hause fühlen in Ostberlin, auch wenn die Wohnung am Alex sehr klein war; und „natürlich gab es die Mikrofone der Stasi, aber daran gewöhnt man sich“. Er wollte seine Akte nach dem Mauerfall nicht sehen, weil er nicht wissen wollte, welcher seiner Freunde ein Spitzel gewesen war. Ehrmans Blick auf das kleine Land ist von Erfahrungen geprägt, die er rund um die Erde sammeln konnte. „Ich war an keinem anderen Ort, wo alle Menschen Arbeit hatten und eine Wohnung. Nur die Freiheit hat gefehlt.“ Und es war oft nicht besonders aufregend. Im Herbst 1989 änderte sich das. Die Leute riefen „Wir sind das Volk“, sie demonstrierten für mehr Freiheit. Ehrman erzählt vom 9. November. Von der Pressekonferenz, die zuerst nach Protokoll ablief, routiniert und langweilig.
Als sie fast vorbei war, sagte Schabowski: „Jetzt geben wir das Wort an unseren italienischen Freund.“ Ehrman: „Sie haben von Fehlern gesprochen. Glauben Sie nicht, dass dieser Reisegesetzentwurf, den Sie jetzt vor wenigen Tagen vorgestellt haben, ein großer Fehler war?“ Schabowski redete unendlich lange, dann sagte er noch: „Und deshalb haben wir uns entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“ Ehrman rief: „Ab wann?“ Schabowski stammelte: „Das tritt nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“ Die Sperrfrist, die bis zum nächsten Tag vier Uhr morgens gelten sollte, hat Schabowski einfach übersehen.
Ehrman rannte los ins Pressezentrum, überbrachte seiner Agentur in Rom über Telex die Nachricht: „La caduta del muro di Berlino!“ – Die Mauer ist gefallen. Er wundere sich noch heute, dass er damals der Einzige war, dem das sofort kristallklar gewesen ist. Die meisten redeten von Reiseerleichterungen. Manche Zeitungen von „Irrtum“. Er habe plötzlich selber Angst gehabt, er könnte sich geirrt haben. Am Bahnhof Friedrichstraße erkannten ihn die Leute, „er ist es, der Mann mit der Frage“, riefen sie und hoben ihn hoch, Ehrman wusste nicht, dass die Pressekonferenz live übertragen wurde. Dann ging er nach Hause und hat an der Tür eine Frau getroffen, die weinend in seine Arme fiel, sie war eine Professorin an der Humboldt-Universität und Botschafterin der UNO. „Sie sagte: ,Alles ist vorbei, aber vielleicht ist es besser so.‘ “ Sein Telefon hat geklingelt und jemand hat geschrien: „Ich bin der italienische Botschafter. Riccardo, was zum Himmel hast du getan? Alle sagen, ein Italiener hätte die Mauer einstürzen lassen. Du?“
Auf der antiken Holztruhe in seinem Wohnzimmer liegt eine kostbare Ausgabe von Cervantes’ Don Quichotte – daneben Papiere. „Bitte, hol sie mir“, sagt er leise. Es ist eine Kopie des berühmten Zettels (siehe Chronik, Seite 12), von Schabowski signiert. Später, als die Mauer weg und Schabowski machtlos war, sind sie Freunde geworden. „Schabowski sagte mir später, er habe gehofft, der Nachfolger von Honecker zu werden. Er habe es nur nicht geschafft, weil Krenz länger im Politbüro war als er.“ Er habe Schabowski und seine russische Frau Irina oft in ihrem Apartment in Westberlin besucht, erzählt Ehrman, er sah ihn nicht nur als Funktionär. „Günter war sympathisch, kultiviert, intelligent, er war ein Kollege, ein Journalist, ehemaliger Chef vom Neuen Deutschland.
Merkels Dank
Nach dem Mauerfall konnte Ehrman sich seine letzte Station vor der Pension aussuchen. Weil seine Frau Spanierin ist, gingen sie nach Madrid. Dort hat ihn Schabowski zu Hause besucht und ihm sein Buch über die Tage des Mauerfalls geschenkt. Wir haben fast alles falsch gemacht. „Für Riccardo von Günter“.
Solche Begegnungen seien für ihn der Grund, Journalist zu sein, sagt er. Als Ehrman vor ein paar Jahren einmal in Berlin war, traf er die Bundeskanzlerin. „La Signora Merkel e un Ossi. Sie sah mich auf sehr ernste Weise an und sagte: ‚Im Namen Deutschlands danke ich Ihnen ...‘ – als hätte ich die Mauer zum Einsturz gebracht. Ich habe nur meine Arbeit gemacht.“ So oder so: Ohne seine hartnäckige Fragerei auf der legendären Pressekonferenz hätte die Mauer noch ein bisschen länger gestanden. Immer, wenn er in Ostberlin sei, erzählt Ehrman, schlafe er im Hotel Hilton in der Mohrenstraße, nur wenige Schritte vom ehemaligen internationalen Pressezentrum entfernt, dort wo heute das Justizministerium ist. Ein Schild erinnert an den 9. November ’89. Ehrman zeigt dann zum Abschied noch sein ganz persönliches Stück Mauer. „Ist echt, habe ich selbst rausgeklopft.“
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Dieser Beitrag ist Teil unserer Wende-Serie 1989 – Jetzt!
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