Das Gespräch findet per Skype statt. Anna Holfeld sitzt allein in ihrer Praxis für Paartherapie in Berlin-Neukölln, die anderen Kollegen sind im Homeoffice. Nebenan spielen ihre beiden Söhne, sagt sie. Bisher waren sie meist bei der Oma. Holfeld will bald mit ihrem Ex-Mann, der Freundin und den Kindern zusammenziehen – es wird ein Experiment. Sie muss dafür noch Regale aufbauen, was ablenke in diesen aufgeladenen Zeiten. So ein neues Projekt könne sie jedem empfehlen, zum Beispiel endlich mal Fotos sortieren oder Frühjahrsputz. Holfeld hat eine sanfte Stimme und sie wirkt etwas müde.
der Freitag: Frau Holfeld, Sie sind Paartherapeutin. Wie wirkt sich Corona auf Ihre Arbeit aus?
Anna Holfeld: Ich erlebe gerade eine große Verunsicherung. Paare die sonst regelmäßiger kommen, machen das jetzt nicht mehr, andere wollen ihre Gespräche online weiterführen. Da ist es dann sinnvoll, wenn jeder einen eigenen Bildschirm hat. Ich erlebe, dass Paare durch Corona in eine Krise kommen, sie haben Druck. Ich bekomme spontane Anrufe von Menschen, dann versuche ich erst mal zwanzig Minuten lang Schadensbegrenzung zu machen.
Was macht die Menschen gerade so nervös?
Wir erleben normale Begebenheiten als viel anstrengender, ich sehe das auch bei mir selbst. Wir müssen an viel mehr Sachen gleichzeitig denken: Wie beschäftige ich die Kinder – oder wie überwache ich deren Beschäftigung? Spielplatz- oder Oma-Besuche sind nicht mehr angesagt. Und dann ist da diese Angst, die wir alle haben. Niemand weiß, was uns noch so blühen wird, nach alldem was man aus Italien gerade so hören kann. Die Anspannung ist hoch.
Der Alltag ist komplett auf den Kopf gestellt. Wir müssen uns auf eine längere Zeit des engen Zusammenlebens vorbereiten. Wie kann das gut funktionieren?
Wenn man sich zum Beispiel unter normalen Umständen zu einer Date Night verabredet, sollte man sie auch in Corona-Zeiten umsetzen. Sollte sich zum gemeinsamen Kochen verabreden oder zum Gespräch. Da sollte nicht nur immer Corona Thema sein, sondern auch: Wie geht es dir damit? Wir gehen alle unterschiedlich mit dieser Ausnahmesituation um. Neulich war ein Paar bei mir, da war der eine sorgenvoll und die andere pragmatisch, die konnten gar nicht richtig zueinanderfinden. Müssen sie aber, weil sie zu zweit in einer Wohnung hocken. Also braucht man Regeln: Wie sprechen wir darüber? Beide Sichtweisen existieren, da braucht man jetzt etwas Mäßigendes, Ausgleichendes.
Eine/r muss cool bleiben, wenn der/die andere in Panik verfällt?
Ja, das wäre eine gute Kombi. Aber das sollte nicht jeder nur mit sich ausmachen, dann bringt es wenig. Sondern diese Unterschiedlichkeit muss man schätzen. Man muss sich darüber austauschen.
Beziehungen leben von einem gesunden Maß an Nähe und Distanz. Wie kann man das in Zeiten von Corona, Homeoffice und Quarantäne umsetzen?
Neulich, in einem Chat mit Kolleginnen, da hat eine gezeigt, wie sie zu Hause ihren Tagesplan machen: Das sind lauter Pinnzettel, auf denen steht, wann sie den Laptop hat, wann er, wann wer die Kinder betreut. Es ist gut, wenn zu Hause beide Schichten machen, sich abwechseln und nicht jeder alles gleichzeitig tut. Man kann Arbeitspläne aufstellen: Wer ist wann wofür zuständig.
Wie kann man sich in den eigenen vier Wänden einfach mal separieren?
Man könnte die Zimmer umfunktionieren, sich die Wohnung noch mal neu anschauen und anders verteilen. Womöglich gibt es ein Spielzimmer oder Arbeitszimmer, und eines für ganz verschiedene Zeiten. Man kann sich durch klare Absprachen zeitlich und örtlich aus dem Weg gehen. Es gibt dieses schöne Wort: Eigenzeit. Das bedeutet, sich Zeit für sich nehmen, dem anderen sagen: Ich will gerade nicht in Kontakt mit dir sein. Aber das gibt es nur im Deal: Ich brauche jetzt eine Stunde für mich, danach bist du dran.
Deals? Sollen wir jetzt möglichst effizient werden?
Es geht um Verabredungen: Was kann ich selbst dafür tun, dass ich mal ungestört in der Wanne liegen kann? Man kann sagen: Ich wünsche mir das. Was kann ich dir dafür geben, dass du genauso etwas für dich machen kannst? Man sollte Regeln verabreden, wann jeder Zeit für sich hat. Fragen, welche neuen Rituale wollen wir als Familie etablieren? Ungeteilte Paarzeit ist natürlich noch schwieriger, wenn man kleine Kinder hat und die nicht mehr zu den Großeltern dürfen. Wir sollten uns auch bewusst mehr Körperkontakt geben. Sich körperlich berühren, das fehlt, wenn wir alle so angespannt sind. Aber es hat auch was Stärkendes.
Nach der Corona-Zeit werden lauter Babys kommen, heißt es.
Sextoys haben gerade einen höheren Absatz, es gibt nachweislich mehr Bestellungen als vor Corona.
Könnten Paare, bei denen es wackelt, durch die Krise wieder enger zusammenrücken, wie es Soziologen für die gesamte Gesellschaft prophezeien?
Es sind gerade beide Phänomene sichtbar, da gibt es solche Menschen, die mehr Ellenbogen haben und Supermarktverkäufer anmeckern, wenn ein Produkt nicht da ist. Andere werden fürsorglicher, hilfsbereiter. Es sind nicht alle sozial und nicht alle asozial. Corona verstärkt etwas, das sowieso schon da ist.
Unter „normalen“ Gegebenheiten müssen immer mehr Ex-Paare weiter zusammenleben, weil die Mieten in den Städten explodiert sind. Kommen die auch zu Ihnen?
Ja, solche Fälle kenne ich auch. Wir überlegen dann gemeinsam, wie man zum Beispiel innerhalb der Wohnung die Räume anders aufteilen kann, ob es möglich ist, dass jemand regelmäßig woanders übernachten kann, bei Bekannten oder Freunden. Man muss auch nicht für jedes Abendbrot zusammen am Tisch sitzen. Es ist aber häufig auch eine Frage der Ansprüche: Ich weiß, dass es sehr schwierig ist, etwa in Berlin eine Wohnung zu finden. Aber es gibt welche, nur vielleicht nicht genau in dem Kiez, in dem man wohnen bleiben möchte.
Viele haben Sorge, dem Kind einen Schulwechsel zuzumuten.
Wenn es für die Familie besser ist, weil durch den Umzug beide mehr Raum haben, halte ich das für die bessere Variante.
Bisschen mehr Demut also. Aber zurück zur Quarantäne-Situation: Wie sollen Menschen, die alleine leben, mit dieser Situation fehlender sozialer Kontakte, zunehmender Einsamkeit umgehen?
Sie müssen ihren Tag neu strukturieren. Meine Großmutter ist 95, die hat immer ein total geregeltes Leben geführt. Es war klar: Zwischen 12 Uhr 30 und 14 Uhr brauchte man sie nicht anrufen, da war Mittagsschlaf. Solche Tagesstrukturen sind gut. Denn das Arbeitsleben fällt weg, wird schwieriger im Homeoffice. Aber man kann festlegen: Wann mache ich das Handy aus? Wann hört meine Arbeitszeit auf, wann mache ich Mittagspause?
Es soll zu einer höheren Zahl von Kindesmisshandlungen und Kindesmissbrauch kommen, kann man lesen.
Ja, das höre ich auch. Dadurch, dass alle so eingepfercht sind, gibt es mehr häusliche Gewalt. Diese Abspannung muss ja irgendwohin, und wenn man von seinem Leben sowieso schon genervt ist, dann wird das durch solche Umstände verstärkt. Wer schlecht mit Aggressionen umgehen kann, der lässt das dann raus. Sonst tauchen die Kinder mit einem blauen Auge in der Kita oder in der Schule auf, da guckt dann jemand drauf. Es gab so eine Art sozialer Kontrolle. Und ich frage mich nun, was wir da jetzt machen können. Hausbesuche gehen ja nicht mehr. Ich weiß von Kollegen, die Sozialarbeiter sind, dass sie entscheiden müssen, was wirklich Notfälle sind und was nicht, aber wie soll man das entscheiden?
Corona bringt Dinge hervor, die nicht mehr mit Ablenkung kaschiert werden können.
Ja, ich plane deswegen eine Hotline für Paare oder Alleinstehende in Not. Wem die Decke auf den Kopf fällt, der kann einfach mal jemanden Außenstehenden anrufen. Ich stehe dann zum Thema Beziehung zwanzig Minuten zur Verfügung, ich beruhige und berate: Was sind die nächsten Schritte? Ich habe große Lust darauf, Familien und Paare durch die Schwierigkeiten zu führen, die durch diese Enge entstehen können.
Warum sind Sie Paartherapeutin geworden?
Themen wie Familie und Beziehungen begleiten und interessieren mich schon immer. Ich bin schon seit 2006 selbstständig und habe in den ersten Jahren vor allen Dingen Coaching oder Mediation gemacht. Aber mit diesen Wörtern konnte kaum jemand etwas anfangen. Als ich mich beruflich umorientieren musste, habe ich mich dann selber coachen lassen. Und dann habe ich mit Kollegen die Familien-Paarberatung erfunden.
Mit diesem Begriff konnte jeder was anfangen?
Ja, natürlich, und es ist immer wieder ein ganz berührender Job. Weil ich bei jedem Gespräch immer noch herausfinden will, was ein Paar eigentlich verbindet: Was hält euch zusammen? Beziehungen können auseinandergehen, auch wenn das die meisten als Scheitern empfinden. Aber ich finde, man sollte sich überlegen, was man als Paar dafür tun kann, dass es einem besser geht. Und sich immer mal wieder fragen: Was liegt in meinem Spielfeld?
Sie leben jetzt mit einer Frau zusammen, wollen mit ihr und dem Ex-Mann zusammenziehen. Wie würden Sie Liebe definieren?
Man sollte ein Wohlwollen mit sich und der anderen Person haben, mit einem großzügigen, liebevollen Blick auf den anderen schauen, mit so einer inneren Haltung: Ich will dir was Gutes. Sogar im Falle einer Trennung geht das. Ich habe es selber erlebt, dass es geht: Ich habe mich von meinem Mann getrennt, dann kamen wir wieder zusammen, sind jetzt wieder auseinander. Und sind uns trotzdem nah.
Der Schlüssel zum Gelingen
Krisensitzung Anna Holfeld, 43 Jahre, wurde in Berlin geboren. Sie arbeitet als systemische Paartherapeutin, als Elternbegleiterin, Heilpraktikerin in Psychotherapie und Mediatorin. Sie leitet zudem einen Familientreff, mit Eltern-Kind-Café und einer Erziehungsberatung.
Beziehungssysteme sind ihr Lebensthema. Holfeld redet in Podcasts, Radiobeiträgen und anderen Medien über die Spielarten der Liebe, allgemeine Herausforderungen des Beziehungslebens und das Gelingen. In ihre Neuköllner Praxis kommen Menschen aller Altersgruppen und Schichten zu ihr, auch Migranten, aber nur wenige mit einem arabischen und muslimischen Hintergrund. Die würden bei Paarproblemen eher zu ihren Familien gehen statt zu einer Fremden. Während der Corona-Krise bietet Holfeld (wie deutschlandweit viele PsychotherapeutInnen) eine Beratung per Telefon und/oder Videochat an.
Anna Holfeld hat selbst das Booklet 7 Schlüssel zu einer gelingenden Beziehung herausgegeben, das man auf ihrer Webseite herunterladen kann (www.paarberatung-neukoelln.de). Aus aktuellem Anlass plant Holfeld zusammen mit einem Berliner Radiosender eine Corona-Hotline, um dort Menschen beraten zu können, die Probleme mit der häuslichen Quarantäne – und ihrer Beziehungssituation haben. Holfeld postet auch auf Twitter unter dem Namen: twitter.com/paarbleiben und liest auf Instagram aus Beziehungsbüchern. Sie ist Mitglied im Verband Freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater e.V. (VFP)
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