Paolo Giordano ist ein 38-jähriger promovierter Physiker, und er ist Schriftsteller, einer der bekanntesten Italiens. Sein Buch Die Einsamkeit der Primzahlen von 2008 verkaufte sich mehr als eine Million mal. Was soll jemand wie er in diesen Corona-Zeiten anderes tun als schreiben? Also schreibt er. Über das Virus und wie es unser Leben verändert.
Sein auch in Deutschland extrem schnell veröffentlichtes Werk In Zeiten der Ansteckung ist ein kurzer Band, mit knapp 80 Seiten, die in schmale Kapitel aufgeteilt sind, es ist halb Analyse, halb Tagebuch. Die Buchführung beginnt am 29. Februar, da hat die Zahl der Ansteckungen weltweit 85.000 überschritten, und endet am 4. März. Es scheint schon irre weit weg.
In Italien fing es damals an, bedrohlich zu werden, das Land stand kurz vor der Quarantäne. Paolo Giordano vertraut, seit er Gymnasiast war, der Mathematik. Früher hat er sich morgens nach dem Aufwachen mathematische Gleichungen ausgedacht, manche sahen in ihm einen Nerd. „Noch bevor Epidemien medizinische Notfälle werden, sind sie mathematische Notfälle“, schreibt er jetzt, er nähert sich dem Virus Sars-Cov-2 ganz rational, versucht, dessen Wirkungsweise zu verstehen.
Auf nüchterne und uneitle Weise erklärt Giordano, wie sich in den Augen des Virus die gesamte menschliche Spezies in drei Kategorien teilt: Anfällige, die es noch infizieren kann, die Infizierten und die, die es schon hatten, die es nicht mehr treffen kann. Susceptible, infected, recovered: SIR.
Menschen beschreibt Giordano als Kugeln, die suszeptibel und reglos sind, bis der Patient null gegen sie knallt und noch zwei weitere Kugeln anstößt. Diese wiederum rollen davon und stoßen pro Kopf je zwei weitere Kugeln an. Wieder und wieder.
Wie schnell, das hängt von der Basisreproduktionszahl R0 ab, erklärt Giordano. Man weiß inzwischen, dass die Dinge nur wirklich gut laufen, wenn diese Zahl unter Eins liegt, wenn also jeder Infizierte weniger als einen anderen Menschen ansteckt. Wenn R0 im Gegenteil über Eins liegt, auch nur geringfügig, tritt eine Epidemie ein.
Die Eindämmung der Epidemie ist also gleichbedeutend mit einer Absenkung des Werts R0. Dann kommt die Einschränkung: „Sobald man die Hand von der unter Druck stehenden Leitung nimmt, kommt das Wasser genauso stark heraus wie vorher.“ Hier spricht der Mathematiker als Schriftsteller.
Paolo Giordano ist nicht der erste italienische Autor, der eine Epidemie zum Thema seines Werks gemacht hat. Alessandro Manzoni, dessen Roman Die Brautleute jeder Italiener kennt, berichtet in der Storia della colonna infame (1840) von einem grausigen Justizirrtum aus dem 17. Jahrhundert. Manzoni rekonstruiert die Vorgänge, die dazu führten, dass Unschuldige, die verdächtigt wurden, die Pest verbreitet zu haben, von Mailänder Richtern verurteilt und mit dem Tode bestraft wurden. Vor ihren zerstörten Häusern wurden Schandsäulen errichtet.
Wut auf die Japanerin
Im Jahr 2020 berichtet Giordano von einer befreundeten Japanerin, die mit ihrer fünfjährigen Tochter in einem Mailänder Supermarkt war und beschimpft wurde, das sei alles ihre Schuld, sie sollten nach Hause gehen, nach China.
„Angst führt zu seltsamen Reaktionen.“ Der 38-Jährige sinniert über die Einsamkeit in Zeiten von Corona, „eine der geschlossenen Münder hinter den Atemmasken, der misstrauischen Blicke“ – und über Gemeinschaft, unter der er die Gesamtheit aller menschlichen Lebewesen versteht. Was würde passieren, sollte sich das Virus in Afrika ausbreiten? Was, wenn es zu Mutationen kommt?
Einmal, 2010, hat Giordano eine Station von Ärzte ohne Grenzen in Kinshasa besucht, wo man sich um die Prävention von HIV und die Behandlung von HIV-Positiven kümmerte, insbesondere von Prostituierten und ihren Kindern. Die Halle, in der sie behandelt wurden, diente als riesiges Bordell, „wo die Familien durch schmutzige Vorhänge voneinander getrennt lebten und die Frauen sich vor ihren behinderten Kindern prostituierten“. In Zeiten der Ansteckung erhält das eine neue, dunkle Bedeutung.
Wie wird es weitergehen, wenn die Corona-Krise durchgestanden ist? Das übersteige seine Vorstellungskraft, schreibt Paolo Giordano. Wir leben in einer vernetzten globalen Welt, und diese Welt ist das „Transportsystem des Virus“. Es werde in Zukunft weitere Ausbrüche geben, die unserer Aggressivität gegenüber der Umwelt geschuldet seien, die immer raschere Auslöschung vieler Tierarten zwinge zum Beispiel die Bakterien, die in den Eingeweiden dieser Tiere nisten, sich eine andere Bleibe zu suchen. Nicht die neuen Mikroben würden uns suchen, sondern wir seien es, die sie aufstöberten.
Seine Urlaube verbringt Paolo Giordano in Salento, Apulien, da konnte er im letzten Jahrzehnt mit ansehen, wie ein Parasit die Olivenbäume befallen und schließlich zerstört hat. Keiner glaubte anfangs, dass dieser Erreger namens Xylella fastidiosa wirklich existierte, bis nur noch verdorrte Gerippe übrig waren.
Aber wie soll sie nun aussehen, die neue Mathematik unseres Lebens? Psalm 90 komme ihm immer wieder in den Sinn, schreibt Giordano: „Unsere Tage zu zählen lehre uns Demut. Dann gewinnen wir ein weises Herz.“ Was würden wir in diesen Zeiten anderes tun als zählen. Paolo Giordanos klare Gedanken sind hilfreich, in solchen unklaren Zeiten.
Info
In Zeiten der Ansteckung. Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert Paolo Giordano Rowohlt 2020, 69 S., 8 €
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