Meine Komplizin Marie

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Sie hat schon als Einjährige mit ihrem Vater für eine Platte das Lied "Bruder Jacob" eingesungen, so steht es in dem Pressetext. "Sanduhr-Figur, blonde Locken, verführerischer Blick" heißt es dort weiter. Marie Biermann weckt offenbar verschiedene Assoziationen, und eine heißt: die Tochter.

Sie tritt an diesem Abend in der Bar jeder Vernunft auf, um Journalisten ihren ersten eigenen Liederabend vorzustellen: Vom donnernden Leben.
Ist das mutig? Oder wird es peinlich werden?

Das Repertoire ihres Konzerts kann man schon vorher im Presseheft nachlesen, Hamburg, die Huren, der Hafen, der Kiez, es dreht sich ums Milieu, und um die Liebe, natürlich. Die meisten Chansons stammen von Wolf Biermann, dem Vater. Er hat sie einst für seine damalige Geliebte Eva Maria Hagen geschrieben.
Marie ist in Hamburg groß geworden und hat viele Jahre bei Wolf Biermann gelebt, erst als Teenager ist sie zu ihrer Mutter gegangen.

Eine hoch gewachsene blonde Frau in schwarzem Hosenanzug erscheint auf der Bühne, gemeinsam mit ihrem Begleiter, dem Pianisten. Sie wirkt älter als 31, reifer.

Die meisten Lieder dieses Abends seien von „Wolf“, sagt sie, manchmal nennt sie ihn auch „Papa". Sie sagt es vorneweg und umstandslos, dann legt sie los, mit Kneipenliedern. "Klein Rosa" erzählt von den Anfängen einer Prostituierten, "mein Süßer" von einem Mann, der immer zu spät nachhause kommt, es geht robust zu, und immer auch um Männer und Frauen. Manchmal verfällt sie kurz in den Hamburger Jargon, da ahnt man, dass sie noch mehr drauf hat. Die Lieder, die von den kleinen Leuten erzählen, und ihrer großen Sehnsucht, sind eine gute Wahl. Unverfänglich. Einmal, als sie "Die großen weißen Vögel" interpretiert, das schon Ingrid Caven sang, da spürt man sie sogar, ganz leise.

Es ist Pause. Ja, sie kann singen. Und ihr Pianist ist wunderbar, er schaut sie treu an während des Beifalls.

Marie Biermann hat einen guten Auftritt, kraftvoll, ein bisschen verrucht, ehrlich. Aber irgendwie erreicht sie mich nicht. Da ist eine Distanz.

Die zweite Hälfte beginnt mit Brechts großartigem Lied: "Ballade von Hanna Cash" vertont von Hanns Eisler. Da fällt plötzlich etwas von ihr ab. Sie singt wunderbar Lindenbergs "Alkoholmädchen". Und dann: "Welke Blätter". Les Feuilles Mortes, Automn Leaves.

Diese Tristesse, der sie alle verfallen waren: Gréco, Gainsbourg, Montand, Dietrich, Sinatra.

Der "Wolf" hat das alte Poem von Jacques Prévert übersetzt, schlicht und in die Seele bohrend, Joseph Kosma hatte es einst komponiert. Schon nach den ersten Zeilen hat sie einen. Verhalten, unpathetisch, dennoch eindringlich singt sie es.

Diese Frau ist doch erst 31! Aber sie scheint den Kummer erlebt zu haben. Ist das gut, oder eigenartig? Ich weiß nicht. Und es ist mir egal. Denn sie singt gerade für mich (und bestimmt alle anderen): "Ja, dieses Lied war wie wir beide, paßte so gut auf Dich, auf mich, und ohne alles Liebesgeleide, liebten wir uns, Du mich, ich Dich. Doch das Leben trennt, die sich lieben, so verlor ich, was ich fand..."

Man kann es auf Französisch kaum mehr aushalten, aber so wie sie das hier interpretiert, wirkt es jung. Und es tröstet! Marie wird meine Komplizin. Und ich werde ihre.

Dann folgen zwei jiddische Lieder, da wird sie wieder vulgärer, aber diese Mischung aus abgeklärtem Humor und einer wunderbaren Melancholie, der Tanz auf dem eigenen Unglück, es macht Spaß, und sie hat bestimmt schon auf jüdischen Hochzeiten getanzt.
Ja, es fällt einem ein, dass Biermanns Vater in Auschwitz als Jude und Kommunist ermordet wurde. Und auch sie wird sich intensiv mit der Geschichte ihres Vaters beschäftigt haben. Aber der verschwindet immer mehr, je länger man sie erlebt.

Noch zwei Zugaben.

Marie Biermann war aufgeregt, sie pocht mehrmals auf ihre Brust, nach der ersten Zugabe, es ist nicht so leicht, als eine Biermann zu stehen, ja. Aber sie hat auch Glück, dass ihr Vater diese Lieder geschrieben hat, aus denen sie nun schöpfen kann. Sie macht sie sich auf ihre Weise zu eigen und ich gehe mit dem heilsamen Gefühl, dass es etwas gibt, das der verlorenen Liebe ihre bittere Dominanz nimmt.

Lieder, die das aussichtslose, das unzulängliche und königskinderhafte Gefühl so treffend beschreiben, die einen verwunden und einen gleichzeitig zum Sieger machen, weil eigentlich kein Mann mit solchen grandiosen Songs mithalten kann.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Maxi Leinkauf

Redakteurin „Kultur“

Maxi Leinkauf studierte Politikwissenschaften in Berlin und Paris. Sie absolvierte ein Volontariat beim Tagesspiegel. Anschließend schrieb sie als freie Autorin u.a. für Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel und Das Magazin. 2010 kam sie als Redakteurin zum Freitag und war dort im Gesellschaftsressort Alltag tätig. Sie hat dort regelmäßig Persönlichkeiten aus Kultur und Zeitgeschichte interviewt und porträtiert. Seit 2020 ist sie Redakteurin in der Kultur. Sie beschäftigt sich mit ostdeutschen Biografien sowie mit italienischer Kultur und Gesellschaft.

Maxi Leinkauf