Rote Melancholie

Nicht in Berlin Das Prinzip „Il Bar“ – wie ein Ort in Italien bis heute als sozialer Spiegel funktioniert
Ausgabe 18/2016
Linke Symbole: Enrico Berlinguer und die Sichel im Film mit Roberto Begnini
Linke Symbole: Enrico Berlinguer und die Sichel im Film mit Roberto Begnini

Foto: Mondadori Portfolio/Getty Images

Noch pfeift der Wind nicht durch die Straßen von Livorno, nur ein paar verliebte Möwen kreischen, die Schiffe dämmern am Hafen. Es ist noch früh am Morgen. Sie habe keine Lust, selber etwas vorzubereiten, „facciamo colazione al bar“, gehen wir in der Bar frühstücken, ruft die Schwiegermutter. Auf der Via San Francesco führt eine ältere Dame ihren Hund aus, wir stoppen an einer Tür, der man von außen gar nicht ansieht, dass sie in eine Bar führt. „Buongiorno cara“, sagt die Frau hinter dem Tresen, während sie die Espressomaschine bedient.

Cornetto und Cappuccino, wir warten aber nicht am banco, die Schwiegermutter steuert auf einen Tisch im Nebenraum zu. Sagt nicht ein Gesetz der Bar, man soll den Kaffee am Tresen einnehmen, weil er sonst teurer wird? Das hier ist eine „Bar Sociale“, werde ich belehrt. Eigentlich kommt man nur mit Mitgliedsausweis rein, er kostet zehn Euro im Jahr, wird aber selten kontrolliert. Man kann also sitzend frühstücken, zum selben Preis. Allein deshalb sei diese Bar „sozialistisch“, ohne so einen servizio lusso wie in der schicken Bar am Dom, hundert Meter weiter von hier, mit ihren riesigen Jugendstilspiegeln. Dort kostet ein frisch gepresster O-Saft fünf Euro, nur weil man ihn auf der Terrasse trinken will. Es sind Preise für Touristen, hätte Livorno nur welche. Die meisten sind hier nur auf der Durchreise, und wer verlässt schon sein All- inclusive-Kreuzfahrtschiff, außer für einen Besuch in den Uffizien.

Orte für Aussortierte

„Livorno è in ginocchio“, Livorno ist in die Knie gezwungen, kann man einen Mittvierziger am Nebentisch vor sich hin reden hören. Was meint der Mann? Er habe drei Kinder, holt er aus, war früher bei TRW, dem Autozuliefererbetrieb, der vor zwei Jahren ins Ausland ausgelagert wurde. Die Stadt verlor mehr als 400 Jobs. Jetzt kommt der Familienvater eben hierher, er kann kostenlos Il Tirreno lesen, die Lokalzeitung mit den Stellenanzeigen, die auf den Tischen liegt. Nachmittags schaut er gewieften Kartenspielern dabei zu, wie sie sich zuzwinkern, alte Tricks. Und manchmal bleibt er zum Aperitif. Abends um sieben schließt die Bar.

Pasquale tritt herein, ein kleiner schmächtiger Mann, dunkelbrauner Teint, wortlos wird ihm ein Ristretto gemacht. Sie kennen ihn, Tag für Tag sieht man ihn vor seinen Bücherständen am Markt, man kann bei ihm Lui è tornato (die italienische Version von Er ist wieder da) für drei Euro bekommen oder eine Biografie Francesco Tottis. Jeden Monat muss er 500 Euro für die Standmiete aufbringen. „Ma come si fa?“, wie soll das gehen, ruft er mit weichem neapolitanischem Dialekt. Er teile sich die Wohnung mit seiner Tochter. Sie haben hier ein Refugium, früh Aussortierte, von Bord gegangene Seemänner, die einst mit den Signorine in den Hafenbars verkehrten. Es gibt sie nicht mehr, die Docks, die Bars, die Arbeit am Hafen, die halbseidenen Frauen. Zum ersten Mal seit Kriegsende nicht mal mehr einen linken Bürgermeister in der so stolzen roten Stadt Livorno. Filippo Nogarin vom Movimento 5 Stelle wurde gewählt, ausgerechnet, aus Protest gegen die Sozialdemokraten.

Die Bar Sociale, sie entspringt dem Geist des vom Faschismus befreiten Italiens, dem demokratischen Wiederaufbau nach dem Krieg. Es wurden sogenannte case del popolo gegründet, Orte für das Volk, die linken Werten verpflichtet sein sollten. Die damals von Sozialisten und Kommunisten inspirierten „ARCI“ sind im ganzen Land entstanden, Vereine, in denen man nicht nur kurz einen Kaffee im Stehen nahm, sondern auch Ausflüge, Tombolas und politische Debatten teilte.

Kommunismus war Physis

Auch die Komödie Berlinguer ti voglio bene (1977) spielt in solchen case del popolo. Roberto Benigni will sich darin befreien, von der Mutter, seinem Frust, und auch der Gesellschaft, die ihn zu erdrücken scheint. Er rebelliert, weil etwas fehlt. Nur was? Sex? Frauen? Revolution? Irgendwie alles. Der Film spielt vor 40 Jahren, die Leute wirken so aufgeladen, so voller politischer Energie. Kommunismus, das spürt man, war auch Physis, ein Ort, ein improvisierter Tag, der Versuch, erwachsen zu werden. Eine Szene spielt in einem circolo, der eine Debatte über Frauenrechte anregen will. „Ich bin für die Befreiung der Frauen, ja, der Frauen der anderen“, ruft ein Mann. Man findet sie noch heute, die Überbleibsel jener Orte, von denen der Umbruch ausgehen sollte. Kommunistische Bars wie der Circolo Arci an der Piazza von Castellina, einem Dorf in den Hügeln der Toskana.

Draußen vor der Bar kann man schön dem Treiben zusehen, drinnen an der Wand blättert der Putz. Ein alter L’Unità- Titel ist dort angeklebt. Hinter dem Tresen steht einer der Inhaber des Bar-Kollektivs, er trägt ein rotes Bandana im schwarzen Haar. Gibt es ihn noch, den linken Protest? „Wir haben bei der Prozession am Karfreitag absichtlich Gotteslästerung betrieben“, sagt er. Linke gegen Katholiken, das ewige Ritual. Der spielsüchtige Maler, den sie hier Dalì nennen, zockt am Automaten, in dem Fernseher, der darüber hängt, läuft eine Castingshow.

Mario hastet herein, klopft ein paarmal auf den Tresen und kippt seinen doppelten Espresso herunter. „Du musst ‚Nein‘ wählen“, ruft er dem Barmann erregt zu. No! „Die denken, so ein bisschen weniger Bürokratie kann Italiens Krise lösen!“ Die Frage, ob Castellina mit dem Nachbardorf Riparbella zu einer Kommune verschmelzen soll, sie spaltet das Dorf – am kommenden Wochenende soll abgestimmt werden. „Aber das Referendum ist rein konsultativ, das Volk hat kein Recht zur Mitbestimmung“, sagt Mario, der für die Bürgerbewegung im linken Rathaus sitzt. Er schlägt den Bogen zu Ministerpräsident Renzi, den Flüchtlingen, der Mafia. Es klingt fast nach Verschwörungstheorie, auch so ein Ritual der Bar. Dann redet er von einem Schmied aus Kalabrien, der beim Pilzesammeln einen Klumpen Gold gefunden habe. Der Mann ist seit 20 Jahren tot, die Geschichte lebt weiter. Egal ob sie stimmt. Solange sie gut erzählt ist.

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