„Wir waren die Lumpen“

Interview Claudia Durastanti entkam durch Literatur der Provinz – ihr Erfolg ist ein Aufstiegsmärchen
Ausgabe 08/2021
Walkmanhören aus Trotz: Die Mutter wollte sich nicht darauf reduzieren lassen, dass sie gehörlos war
Walkmanhören aus Trotz: Die Mutter wollte sich nicht darauf reduzieren lassen, dass sie gehörlos war

Foto: Bachelet Bruno/Getty Images

Iin ihrem Roman Die Fremde beschreibt Claudia Durastanti, wie sie als Kind gehörloser Eltern in Brooklyn aufwuchs. Ihre Mutter geht mit ihr schon früh zurück in die Heimat, in ein kleines Dorf in Italien. Ein Leben in radikaler Einsamkeit. Mithilfe der Literatur baut sich Durastanti ihre eigene Welt, fängt an zu schreiben und erforscht ihre Wurzeln.

der Freitag: Frau Durastanti, Ihre Eltern sind beide taub, selten im Gleichgewicht. Das prägte Ihre Kindheit. Von der erzählen Sie in Ihrem Roman „Die Fremde“. Ihre Sprache ist verblüffend sachlich und poetisch. War das schwer bei so einem persönlichen Thema?

Claudia Durastanti: Die Dichterin Emily Dickinson hat mal gesagt: „Nach einem großen Schmerz kommt ein formelles Gefühl.“ Dieser Satz hat mich begleitet. Ich fragte mich: Welche Form kann ein Leben wie das meiner Mutter annehmen? Aus sehr vielen Gesprächen mit meinen Eltern, meinem Bruder, Freunden, meinem Partner ist dann diese Distanz entstanden.

Vor allen Dingen das Verhältnis zu Ihrer Mutter war schmerzhaft, und gleichzeitig bewundern Sie diese ambivalente Frau, die eine Vagabundin und Feministin ist. Hilflos, aber selbstbestimmt.

Ja, ich hatte Angst, über sie zu schreiben. Meine Mama ist fast zu romanesk, um wahr zu sein. Wer sollte diese Geschichte eines Mädchens glauben, das taub wurde und immer falsch abgebogen ist, systematisch den schwierigsten Weg wählte? Als sie in Brooklyn lebte, konnte sie auf ihre Familie zählen, Eltern und Großeltern, die ihr beim Kinderbetreuen halfen, sie war wirtschaftlich abgesichert. Mit 34 schnappt sie dann meinen Bruder und mich und geht in ein Dorf. Als Geschiedene nach Süditalien! Sie kannte niemanden, hatte Alkoholprobleme, rasierte sich die Haare. Sie suchte Isolation, eine radikale Einsamkeit.

Verstehen Sie, warum?

Ich habe mich das mein Leben lang gefragt und Die Fremde wie eine Ermittlung geschrieben. Um die tiefen Gründe dieser Frau zu begreifen. Einmal fragte ich sie: „Wir wäre dein Leben verlaufen, wenn du nicht taub gewesen wärst?“ Sie sagte: „Bedeutungslos.“ Meine Mama suchte nicht nach Glück, sie wollte wahrgenommen werden.

Ihre Mutter war nicht besonders beschützend.

Sie hat mich Freiheit gelehrt, eine schreckliche Freiheit, eine ohne Grenzen. Meine Mutter hat ihre Behinderung geleugnet. Sie hat biologischen Fakten einfach misstraut.

Das ging der gesamten Familie so. Der Vater schenkte ihr einen Walkman!

Ja, um Musik zu hören! Aber diese Verleugnung hat es ihr erlaubt, sich neu zu erfinden: Mal war sie die Taube, mal die Künstlerin, mal die Mutter, mal die Verrückte des Dorfes. Sie wollte nicht nur auf eine Version ihres Ichs reduziert werden.

Warum ist sie nun in das Dorf der Familie zurückgekehrt, die längst ausgewandert war?

Weil sie ihrem Vater zeigen wollte, dass sie in der Lage ist, das zu tun. Es war ja eine typische traditionelle italoamerikanische Familie, mit patriarchalischen Männern. Der Umzug in die Basilikata war auch der Versuch meiner Mutter, ein episches Leben zu führen.

Zur Person

Claudia Durastanti wurde 1984 in Brooklyn geboren und lebt inzwischen in London. Sie ist Schriftstellerin, Übersetzerin und Mitbegründerin des Italian Festival of Literature in London. Ihr Roman Die Fremde ist gerade im Paul Zsolnay Verlag erschienen

Sie sind in Brooklyn geboren, wuchsen an der Peripherie in Bensonhurst auf, einem Viertel der Einwanderer und Arbeiter. Wie war das?

Meine Familie war so, wie man es aus dem Kino kennt, klassische Immigranten. Sie haben die Mechanismen ihres süditalienischen Dorfs nach Amerika transferiert, sich dort ihre eigene Gemeinde aufgebaut, als sie in den 1960ern kamen. Sie haben ihre Dialekte behalten. Meine Oma arbeitete in diesem Restaurant in Midtown und nahm abends Mozzarella mit, den ich an Bewohner des Viertels verteilen sollte, da war ich fünf. Mein Traum war es immer, eine gute Amerikanerin zu werden, die einen Gastwirt heiratet und Republikanerin wird – das Gegenteil von dem, was ich heute bin.

Wie konnten Sie sich mit Ihrer Mutter verständigen?

Sie redet besser, als gehörlose Menschen das meist können, es war anstrengend, aber wir konnten uns verstehen, auch wenn wir nie die Gebärdensprache gelernt haben. Manchmal spürte ich, dass Worte nicht reichen. Meine Mutter hasste es, wenn ich „Sì, sì“ sagte und so tat, als hätte ich sie verstanden. Dann versuchte ich, zu gestikulieren.

Sie lebten zwischen den Welten, Moderne und Tradition.

Ich hatte eine besondere Jugend, als wir in die Basilikata umgezogen sind, es war anarchischer, moderner als in der geschlossenen Gemeinde in Brooklyn. Ich wurde immer amerikanischer, hörte amerikanische Musik, schaute mit meinem Bruder Serien wie Beverly Hills, 90210. Manchmal streifte meine Mutter stundenlang umher und nahm mich als „Geisel“, statt mich in die Schule zu schicken. Manchmal verschwand sie einfach, schlief auf der Straße.

In dieser Zeit haben Sie Bücher entdeckt, welche waren das?

Wir hatten eine Bibliothek, in der ich Bücher klaute, die für ältere Kinder bestimmt waren, Lolita, Lady Chatterley. Im Regal meiner Mutter fand ich Letzte Ausfahrt Brooklyn. Diese Werke waren für mich als junges Mädchen wie eine Explosion, schmerzhaft und lebendig. Später in der Schule las ich die Russen. Meine Mutter las Bücher der Beat-Generation, in ihrem Regal standen Werke über Revolution und Kommunismus. Andererseits sammelte sie wie verrückt billige Liebesromane. Sie suchte darin jene große Leidenschaft, die sie mit meinem Vater nicht leben konnte.

Wo war Ihr Vater? Sie beschreiben ihn im Buch als zerstörerisch, als „tiefschwarze Galaxie“.

Er lebte wie meine Mutter in der Fiktion, sie wollten Kinohelden sein. Mein Vater konnte fröhlich sein und im nächsten Augenblick das Glas zerschlagen, ohne dass meine Mutter die Stimmungsschwankungen vorhersehen konnte. Er zerriss ihre Lieblingsbücher.

Ihre Eltern waren arm. Wie haben Sie das als Kind empfunden?

Mein älterer Bruder und ich hatten wenig zu essen, aber wir hatten unsere amerikanische Familie. Mein Bruder besaß 23 Paar Nikes, ich hatte 70 echte Barbiepuppen. Meine Mutter machte Schulden. Ich wusste immer, dass ich ein benachteiligtes Kind bin, und mein Bruder hat mir eingeschärft, vorbildlich in der Schule zu sein. Ich war mein Leben lang eine Soldatin.

Warum sind Sie Schriftstellerin geworden?

Ursprünglich wollte ich Journalistin werden, weil meine Mama Oriana Fallaci bewunderte …

… eine italienische Reporterin.

Als ich mit 20 auf einer Indienreise war, habe ich einen Terroranschlag miterlebt. Ich musste weinen und wusste: Ich könnte niemals als Korrespondentin arbeiten.

Sie studierten in Rom, haben Kurzgeschichten veröffentlicht. Und Ihr autobiografischer Roman „Die Fremde“ war auf der Shortlist des Premio Strega. Der Aufstieg ins bürgerliche Milieu?

Ja, aber ich fühle mich manchmal wie eine Betrügerin, weil ich nie weiß, wo ich hingehöre. Diese Melancholie der Klasse hat Annie Ernaux in ihrem wunderbaren Buch Der Platz beschrieben. Sie war dem ärmeren Elternhaus entkommen, wurde Schriftstellerin und ist in diesem Zwischenort stecken geblieben, den manche transclass nennen. In der intellektuellen Bourgeoisie Italiens wird stark betont, aus welcher Schicht man stammt. Meine Mutter war weder Bäuerin noch Proletarierin, sie stand noch unterhalb der Arbeiterklasse. Wir waren die „Lumpen“.

Der Chef einer Kulturzeitschrift erklärte Ihnen im Restaurant: „Du isst wie eine Arme.“

Das stimmte. Ich saß noch mit gekrümmten Schultern da und konnte auf meinem Teller nichts übrig lassen. Ich hatte keine bürgerliche Erziehung. Aber ich habe von meiner Mama eine Sensibilität für das Desaster geerbt, für jede Form der Marginalisierung.

Sie schreiben desillusioniert über die Liebe ...

Ich frage mich: Wie verändert sich eine Beziehung nach fast 20 Jahren? Früher glaubte ich an Symbiose, bis ich merkte, dass man eine gesunde Distanz braucht, zu den Eltern und zum Partner.

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Geschrieben von

Maxi Leinkauf

Redakteurin „Kultur“

Maxi Leinkauf studierte Politikwissenschaften in Berlin und Paris. Sie absolvierte ein Volontariat beim Tagesspiegel. Anschließend schrieb sie als freie Autorin u.a. für Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel und Das Magazin. 2010 kam sie als Redakteurin zum Freitag und war dort im Gesellschaftsressort Alltag tätig. Sie hat dort regelmäßig Persönlichkeiten aus Kultur und Zeitgeschichte interviewt und porträtiert. Seit 2020 ist sie Redakteurin in der Kultur. Sie beschäftigt sich mit ostdeutschen Biografien sowie mit italienischer Kultur und Gesellschaft.

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