Von Überzeugungen zu Fakten

Ukraine Eine Antwort auf den im freitag publizierten Artikel "Wozu denn den Fakten glauben" von Lutz Herden.

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Bei dem hier folgenden Text handelt es sich um eine Antwort auf den Artikel "Wozu denn den Fakten glauben" zur Ukraine-Diskussion von Lutz Herden. Sicher wird sie einigen Widerspruch provozieren. Ich halte es aber für notwendig und sinnvoll, einen kontroversen, aber faktenbasierten Austausch einzugehen, am Ende dessen mitunter auch ein unverhoffter Erkenntnisgewinn stehen kann.

Beginnen wir mit dem Minsker Abkommen und der Frage der Sanktionen. Lutz Herden weist darauf hin, dass aktuell beide Seiten, die ukrainische und die russische, nach Sicht der OSZE-Beobachter das Minsker Abkommen brächen, und meint, dass es ein Zeichen "einseitigen Denkens" sei, wenn nur Sanktionen gegen Russland verhängt würden (tatsächlich ist ja kürzlich die Verlängerung der Sanktionen gegen Russland u.a. durch dessen Nichteinhaltung der Minsker Vereinbarungen begründet worden). Dies ist allerdings nur ein Teil der Wahrheit. Die Sanktionen wurden im März 2014 als Reaktion auf die Krym-Annexion durch Russland verhängt. Sie wurden jeweils im Juli und September des selben Jahres aufgrund der Rolle Russlands im Donbass-Krieg verschärft. Die Sanktionen sind somit nicht eine "Motivationshilfe", um die Minsk-Vereinbarungen zu erfüllen, sondern sie sind an konkrete Völkerrechtsbrüche durch die Führung der Russischen Föderation bzw. deren Rückgängigmachung gebunden.

Dass die Minsk-Vereinbarungen in der gegebenen Form an sich schon fragwürdig sind, sei hier nur am Rande erwähnt, interessant ist aber in Bezug auf die im Artikel gemachte Argumentation schon, dass die eklatantesten Verstöße ohnehin ganz andere waren: trotz des im ersten Minsker Abkommen beschlossenen Status des Donetsker Flughafens wurde dessen Eroberung durch die russische Seite weiter betrieben, wodurch er schließlich (übrigens unter massivem Einsatz ohne Hoheitsabzeichen agierender russischer Armeeeinheiten) fiel; weiterhin kam die Unterzeichnung von Minsk 2 der russischen Seite "zu früh", weswegen jene trotz des gerade in Kraft getretenen Waffenstillstands den Angriff auf Debalzewe fortsetzte und intensivierte, um die Stadt schließlich einzunehmen. Trotz der Waffenstillstände vergrößerte sich das besetzte Gebiet im Osten der Ukraine über Monate hinweg kontinuierlich, diese Entwicklung ist erst in den letzten Monaten durch eine militärisch stärker gewordene ukrainische Armee zum Stillstand gekommen, sodass Grenze jetzt über einige Zeit recht stabil geblieben ist.

Man kann natürlich jetzt all das ausblenden und sich allein auf die aktuelle berichteten Verstöße beider Seiten gegen die Minsker Vereinbarungen konzentrieren. Das blendet aber aus, wofür die Sanktionen eigentlich einmal verhängt wurden.

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Kommen wir nun zum Maidan. Im Artikel heißt es: "Ausgeblendet wurde der chauvinistische, mitunter faschistoide Furor eines Teils der Maidan-Besetzer, die – wie dem Schmuck besetzter Gebäude zu entnehmen war – den Nazikollaborateur Stepan Bandera (1909-1959) zur Ikone erhoben hatten". Wie groß (oder besser: wie klein) dieser Anteil an den Demonstrierenden war, wird hier leider nicht näher benannt. Auf dem Maidan sammelten sich am 8. Dezember 2013 rund 500.000 Menschen, und über die gesamte Zeit der Proteste befanden sich ständig einige zehntausend dort. Wie kann man nun den Anteil und - was ja noch wichtiger ist - Einfluss radikaler Elemente bestimmen? Dass einige Aktivisten nun Gebäude mit Bandera "verziert" haben, kann hier wirklich kein Maßstab sein; es zeigt lediglich, wie entschlossen Einzelne waren, sich öffentlich Sichtbarkeit zu verschaffen - nicht mehr und nicht weniger. Während der Proteste war eine größere Anzahl meiner Freunde und Verwandten in der Ukraine auf dem Maidan, als Künstler, einfache Protestierende und als Journalisten. Alle deren Berichte bestätigen immer wieder eines: der Maidan war ein breites Bündnis von Menschen mit z.T. sehr verschiedenen Weltsichten, geeint durch die Schnittmenge eines gemeinsamen Ziels, während Politiker, die auf der Bühne standen oder später hinter verschlossenen Türen Verhandlungen führten, maximal geduldet waren, dabei eher als Trittbrettfahrer und sicher nicht integraler oder treibender Teil der Proteste gesehen wurden.

Mich erinnert diese Debatte und die in ihr vorgetragenen Argumente immer wieder an die Demonstrationen für Abrüstung und gegen Atomkraft in der BRD der 80er Jahre. Auch hier waren zehntausende Menschen auf der Straße, die z.T. sehr unterschiedliche Weltbilder hatten, auch hier gab es kleine Gruppen Radikaler, die z.T. erheblich gewaltsam vorgingen. Diskreditierte das die Demonstrationen und deren ziele als Ganze? Wir regten uns alle zu Recht darüber auf, dass konservative Presse und Politiker uns genau das zu vermitteln versuchen. Was macht uns nun heute so große Probleme, den Massenprotest von 500.000 Menschen in der Ukraine als genau das zu akzeptieren?

Der nächste Absatz befasst sich mit Janukowytsch. Im Artikel wird - täglich grüßt das Murmeltier - die Bezeichnung "Putsch" sowie "Regime Change" verwendet. Das impliziert, dass der Sturz des Präsidenten Janukowytsch durch eine irgendwie geartete "Elite" (offenbar damalige Oppositionspolitiker) gemeinsam mit einer fremden Macht (offenbar dem "Westen") durchgeführt wurde. Das ist allerdings bestenfalls eine Interpretation der Ereignisse, aber keinesfalls eine zweifelsfrei festgestellte Tatsache.

Wenn wir über Fakten reden wollen, dann sollten wir erst einmal festhalten, was als gesichert gilt: nachdem im Februar viele Menschen den Scharfschützen zum Opfer gefallen waren, brach die Unterstützung des Präsidenten durch seine politischen Verbündeten und den Staatsapparat weg, Abgeordnete der Partei der Regionen distanzierten sich von ihm, die Polizei weigerte sich, ihn weiter abzuschirmen. Es fanden hinter verschlossenen Türen Gespräche mit Vertretern der ukrainischen Regierung, Oppositionspolitikern und westlichen "Vermittlern" statt, die zu einer "Kompromissvereinbarung" führte. Die genannten Gespräche wie auch deren Resultat waren jedoch aus Sicht der Demonstrierenden auf dem Maidan weder auch nur irgendwie von ihnen legitimiert noch wurden sie akzeptiert. Am 22. Februar flüchtete der Präsident aus Kyiv. Die Regierung hatte faktisch aufgehört zu existieren.

Da in diesem Zusammenhang oft die Frage nach der Legitimität des Präsidenten und seines Sturzes aufgebracht wird, möchte ich in einem kleinen Exkurs an einige Aspekte seiner Amtszeit erinnern: Janukowytsch war 2010 in einer freien Wahl zum Präsidenten bestimmt worden, vor allem deshalb, weil sich ein größerer Teil der Ukrainer nicht dazu entschließen konnte, für Julia Tymoschenko zu stimmen und daher lieber der Wahl ganz fernblieb.

Nach seiner Wahl begann Janukowytsch jedoch praktisch umgehend, demokratische Institutionen in seinem Land zu demontieren:

  • Der erste Akt war die illegale Art, auf die er sich eine parlamentarische Mehrheit verschaffte: eine größere Anzahl Parlamentarier anderer Parteien wechselten plötzlich die Fraktion und traten einer sich neu formierenden Regierungskoalition zwischen Partei der Regionen und Kommunisten bei. Da in der Ukraine zu der Zeit ein reines Verhältniswahlrecht herrschte, gab es ein Gesetz, das Parteiübertritte während einer Legislaturperiode explizit verbot. Das sollte verhindern, dass der Wählerwillen unterwandert werden könne.
    Die parlamentarische Mehrheit benötigte Janukowytsch dringend, da er und seine Partei Ende 2004 nach der Wahl Juschtschenkos im Anschluss an die Orangene Revolution eine Verfassungsänderung durchgedrückt hatten, nach der sich Präsident und Parlament die Regierungsgeschäfte - und entsprechend auch die Macht - zu teilen hätten.
  • Dieser Makel wurde allerdings kurz danach beseitigt. Janukowytsch beauftragte das Verfassungsgericht, eben jene Verfassungsänderung von 2015 als "verfassungswidrig" zu erklären, um sie dann zu annullieren. So konnte er fortan faktisch ohne Parlament regieren.
  • 2012 wurde das Wahlgesetz für die Parlamentswahlen geändert ein gemischtes Wahlrecht installiert: neben den Sitzen für Parteien wurden zusätzlich Sitze für Direktkandidaten vorgesehen. Das erlaubte, durch gezielte Manipulationen bei der Wahl von Direktkandidaten einen erheblichen Hebel in Bezug auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlament zu erzielen, wovon (wie nationale und internationale Wahlbeobachter berichteten) ausgiebig Gebrauch gemacht wurde, so dass, obwohl eine deutliche Mehrheit der Wähler für die Opposition gestimmt hatte, dennoch eine satte Mehrheit an Sitzen für die Regierungskoalition heraus kam.

Auf die anderen, wohl bekannten Aspekte seiner Herrschaft - etwa Bereicherung, Korruption, Willkür, systematische Einschränkung von Pressefreiheit, faktische Abschaffung der Reste von Gewaltenteilung und nicht zuletzt die Inhaftierung politischer Gegner unter fadenscheinigen Begründungen - will ich nicht weiter im Detail eingehen. Deutlich sollte hier aber jetzt sein, dass Janukowytsch 2013 sein Guthaben an Legitimität aus der Wahl von 2010 in den Augen großer Teile der Bevölkerung mehr als aufgebraucht hatte.

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Kommen wir zum Exkurs um die Geschichte des Donbas. Bis zum Jahr 1917 bestand ja noch die Aufteilung des Russischen Reichs in Gouvernements. Die Aufteilung des Gebiets in Sowjetrepubliken wenig später war somit etwas Neues und in gewisser Weise auch Willkürliches. Tatsächlich ist das Donezbecken über Jahrhunderte hinweg vor allem von Ukrainern besiedelt gewesen und war bis zum Beginn der Industrialisierung und der Gründung großer Städte Ende des 19. Jh. ukrainischsprachig (in den Dörfern der Gegend wird übrigens auch heute noch viel ukrainisch gesprochen). Von einer "Schenkung" des Donbass an die ukrainische Sowjetrepublik kann hier wirklich keine Rede sein - "Fakt" ist das genz gewiss nicht.

Es folgt der historische Exkurs zur Krym: Die Krym wurde 1783 unter Katharina II dem Russischen Reich hinzugefügt. Wir sollten uns bewusst machen, dass schon damals das Russische Reich ein Vielvölkerstaat war. Entsprechend multiethnisch war die Bevölkerung der Krym auch über die Jahrhunderte danach. Ukrainer machten einen großen Teil der Bevölkerung aus, wurden aber damals nicht als separate Ethnie gezählt, was heute angesichts Putins Instrumentierung der Geschichte für nicht ganz unbeabsichtigten Missverständnissen sorgt. Die Behauptung, die Krym sei "schon immer" - gemeint ist: seit 1783 - "russisch" gewesen, ist somit in Bezug auf ihre Zugehörigkeit zum Russischen Reich nicht falsch, kann aber nicht als Beleg für die heute von Russland formulierten Ansprüche dienen.

Die Zusammensetzung der Bevölkerung wurde dann spät - nach dem Ende des 2. Weltkriegs - durch durch Stalins Vertreibungen und Umsiedlungen merklich verändert, wodurch der Anteil ethnischer Russen auf der Krym deutlich zunahm - freilich mit dem Preis von massenhafter Deportierung und somit faktischer Enteignung derer, die dort über Jahrhunderte hinweg zu hause gewesen waren.

Die Übertragung der Krym an die ukrainische Sowjetrepublik durch Khruschtschow war logisch und ökonomisch sinnvoll, da die Krym ja damals wie heute vom ukrainischen Festland hochgradig abhängig war. In diesem Kontext die Frage einer Volksbefragung aufzubringen, ist nicht zielführend (oder eher: populistisch), da so etwas in der Sowjetunion in solchen Fällen grundsätzlich nicht vorkam (etwa, als man einige Jahre vorher Teile der Ostukraine an die russische Sowjetrepublik übertrug, um deren Anteil an fruchtbarer Schwarzerde zu erhöhen) und auch, weil zur damaligen Zeit niemand damit rechnete, dass die Ukraine irgendwann nicht mehr Teil der Sowjetunion sein könnte, es interessierte daher schlicht niemanden.

Im Artikel werden verschiedene Belege für Sezessions-Willen auf der Krym vor 2014 aufgeführt, leider fehlt hier aber der Hinweis auf das Resultat der Volksabstimmung über die ukrainische Unabhängigkeit vom 1. Dezember 1991 auf dem Gebiet der Krym, wo mit 54,19% mit "ja" gestimmt wurde, ebenso die Resultate verschiedener Volksbefragungen in den Jahren bis 2014, die alle keine Mehrheit gegen die Zugehörigkeit zur Ukraine ergeben hatten. Das als Beispiel genannte Sewastpol ist auch wirklich nicht repräsentativ für die gesamte Krymbevölkerung, da die Stadt durch die Präsenz der russischen Schwarzmeerflotte noch mehr als woanders auf der Krym besonders stark russisch dominiert war. Die Aussage, dass die Krymbevölkerung schon lange eine Absicht zur Sezession gehabt habe, ist wirklich nicht mehr als eine Behauptung oder Meinungsäußerung - um eine anerkannte Tatsache handelt es sich sicher nicht.

Genau so handelt es sich um eine reine Meinungsäußerung, wenn es heißt, die neue Administration in Kyiv habe 2014 "keinen Hehl aus ihrer nationalistisch-ukrainischen Ausrichtung" gemacht. Die damalige Übergangsregierung war eine sehr heterogene breite Koalition, die gebildet worden war, um für die Übergangszeit alle Teile der früheren Opposition an der Regierung zu beteiligen; tatsächlich war sie aber, wie auch die dann durch die Neuwahlen bestimmte noch heute aktive Regierung, mehrheitlich bürgerlich-konservativ. Übrigens sind die Wahlergebnisse von Parlaments- und Präsidentenwahlen Ende 2014 recht repräsentativ für die politische Grundhaltung der überwiegenden Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung, die in den letzten 15 Jahren unabhängig von allen politischen Projekten und Kandidaten bei Parlamentswahlen mit stetig wachsender Mehrheit bürgerlich-konservativ gestimmt hat.

Nebulös wird es dann mit der Formulierung "Anstalten [...], Russisch als zweite Amtssprache abzuschaffen". Es handelte sich dabei um einen Vorstoß, das Kiwalow-Kolesnitschenko-Sprachgesetz von 2012 (das von vielen als schlecht gemacht und auf illegale Weise im Parlament durchgedrückt empfunden wurde) zu annullieren und durch ein neues zu ersetzen, der aber letztlich keine Mehrheit im Parlament fand. Das sollte eigentlich eher als Beweis gelten, dass die Übergangsregierung eben nicht einseitig ausgerichtet war.

Schließlich bricht Lutz Herden nun auch noch eine Lanze für die "Volksrepubliken" um Donetsk und Luhansk. Er verschweigt hier leider, dass dort anders als davor in Kyiv nicht hunderttausende, nicht einmal zehntausende für ihre Ziele auf die Straßen gegangen waren, sondern bewaffnete Soldaten ohne Hoheitsabzeichen (die sog. "grünen Männchen") faktisch die Kontrolle an sich rissen und kurze Zeit später aus Russland über die Grenze geschaffte Panzer und schwere Artillerie den neuen Status Quo sicherten. Ein ziviler Aufstand - selbst unter Beteiligung radikaler Gruppen - sieht anders aus. Wie viele Bewohner der heute besetzten Gebiete damals wirklich für eine Sezession von der Ukraine waren, werden wir wohl nie erfahren, da unabhängige Befragungen nicht stattfanden, die Teilnahme an den ukrainischen Wahlen mit Gewalt verhindert wurde und bei dem durchgeführten Scheinreferendum selbst russlandtreue ukrainische Parteien und Kandidaten ausgeschlossen waren.

Ja, Mut zur Wahrheit ist nötig, in dieser einen Aussage stimme ich Lutz Herden von ganzem Herzen zu. Nur ist seine Auswahl an Wahrheit leider viel zu selektiv, um wirklich beim Verstehen dessen, was in den letzten 3 Jahren in der Ukraine passiert ist, zu helfen.

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Geschrieben von

mbert

Ukraine, Musik

mbert

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