Die Fähigkeit des zweiten Blicks - Teil 1

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Viel ist zu lesen dieser Tage über Stuttgart und „über das Vorhaben, eine Stadt zu ermorden“, wie der Schriftsteller Heinrich Steinfest (Wo die Löwen weinen) es bezeichnet. Dabei geraten die Betroffenen über die mannigfachen technischen und politischen Aspekte des S21-Komplexes aus dem Blick, tauchen allenfalls als Klischees vom „Wut“- oder „Mutbürger“ auf.

Zwei junge Leute, keine Profi-Journalisten, haben sich dieser scheinbar verborgenen Welt in einer Reportage für die Stuttgarter Monatszeitung „einundzwanzig“ angenähert – und Erstaunliches zu Tage gefördert. Da der Artikel (noch) nicht online verfügbar ist, aber gerade auch für Außenstehende Wichtiges nachvollziehbarer machen könnte, soll er an dieser Stelle einem breiteren Leserkreis zugänglich gemacht werden...

Parallelwelten am Bahnhof

Zwei engagierte Nachwuchsjournalisten und ein Fotokünstler tauchen tief ein in die Stuttgarter Bahnhofswelt

Eine Reportage von Max Münzer und Pia Wolkenstein. Fotos [im Print]: Chris Grodotzki

(Erschienen in der Juli-Printausgabe der unabhängigen Stuttgarter Zeitung einundzwanzig“. Die Zeitung „einundzwanzig“ finanziert sich ausschließlich aus ausgewählten Spenden und Anzeigen und neuerdings über ein Förderabo - und kann somit auch bundesweit bezogen werden.)

Vollständiges Zitat Beitrags „Parallelwelten am Bahnhof“:

Der Stuttgart Hauptbahnhof steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Medien und Öffentlichkeit. Doch jenseits allen Streits lohnt ein zweiter Blick auf den Bonatzbau und sein unmittelbares Umfeld: das neue Bankenviertel und den angrenzenden Park. Wie in einem Brennglas kann man hier die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Schwabenmetropole entdecken – zu der inzwischen auch die Protestkultur gehört. Nur sollte man genau hinschauen.

Die Halle des Stuttgarter Bahnhofs erinnert mit den großen Fenstern und der hohen Decke an eine Kathedrale. Früher voller Stolz von den Stuttgartern betrachtet, ist der Bonatzbau heute durch fehlende Fürsorge und Pflege sichtlich heruntergekommen. Im Vergleich zu den Bahnhöfen in anderen großen Städten gibt es in der Schalterhalle und vor den Gleisen nur wenige Geschäfte. Keine protzigen Läden locken zum Kauf teurer Mitbringsel oder Massenware. Eine kleine Buchhandlung etwa, eine Marktstation, in der sich ein McDonalds's versteckt, oder ein paar Kneipen und Cafés lassen extravagantes Bahnhofsambiente à la Berlin oder München gar nicht erst aufkommen In der Schwabenmetropole zeugen die Geschäfte von Funktionalität. Das liegt freilich nicht am Geiz der Schwaben, sondern an der völlig gesunden Sichtweise, die nahegelegene Stuttgarter Innenstadt sei ohnehin schon mit Bekleidungs-, Handy- und Parfümerieketten gepflastert.

Die Fähigkeit des zweiten Blicks ist vielen verloren gegangen

Der Stuttgarter Hauptbahnhof ist einfach nur ein Bahnhof, ein Mittel zum Zweck. Ein Ort, durch den Abertausende Passanten und Pendler strömen, an dem sich Bahnpersonal und mittlerweile auch Polizisten zuhauf tummeln. Ein anonymer Platz, an dem sich Menschen begegnen, ohne sich richtig zu sehen. Heutzutage nehmen die Leute ohnehin fast nichts mehr wahr; ihnen ist die Fähigkeit des zweiten Blicks verloren gegangen. Sie sind des Hinschauens in menschliche Abgründe überdrüssig geworden, haben durch die Hektik des Lebens aber auch das Interesse an den banalen Dingen des Alltags verloren. In all der blinden Eile reduzieren sie den Hauptbahnhof – ein Zentrum unendlicher Vielfalt – auf einen An- und Abreisepunkt in ihrem Fahrplan.

weiter mit Teil 2

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