Die Fähigkeit des zweiten Blicks - Teil 2

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Zwei unterschiedliche Welten: die Sphäre der Wirtschaft und der grüne Park

Wir flanieren durch das geschäftige Treiben und handeln uns dabei mehrfach kleine Maßregelungen anderer Passanten ein. Hier gehört Tempo zum guten Ton. Vor der Hast und Hektik fliehen wir in den menschenleeren vorderen Teil eines der acht Bahnsteige – ein kleiner Ort der Ruhe und des Innehaltens. Dort bietet sich uns ein ambivalenter Ausblick. Zwei unterschiedliche Welten sind von hier aus zu sehen – Parallelwelten: die Sphäre der Wirtschaft im neuen Bankenviertel zur Heilbronner Straße hin und der grüne Park samt seinen Besuchern und Besetzern.

Der in dunklem Beton, Metall und Glas gehaltene Gebäudekomplex der BW-Bank passt nicht zum Bahnhof. Je näher wir dem Bankenviertel kommen, desto hässlicher wird die Umgebung. Die wenigen Menschen, die zu sehen sind, haben schwarze Aktenkoffer, die im Rhythmus ihres Laufschritts wippen. Auch sie sind hektisch wie die Bahnfahrer, als liefe die Zeit an ihnen vorbei, als könne der nächste Termin nicht noch ein paar Minuten warten oder als müssten sie auf einen Zug aufspringen, der ihnen ein reicheres Leben verspricht. Wir fragen einen Geschäftsmann, wie denn die Architektur der Beton- und Glasfassaden auf ihn wirke. Er blickt stur geradeaus. Tunnelblick. Nie darüber nachgedacht. Die gut gekleidete junge Frau hingegen, die zwar auch nur einen Augenblick innehält, sieht das hässliche Ambiente und kommentiert: „Schrecklich sieht es hier aus.“ Wir lassen den Blick über den nach Plan angelegten See des Innenhofes, den abgemessenen Rasen und die reflektierenden Glasfronten schweifen und stimmen mit der Bankerin schnell überein: tote Architektur.

Vor dem herabprasselnden Regenschauer finden wir Obdach in einem Café. Außer uns sind nur zwei Frauen anwesend, die wie wir Wärme bei einem heißen Kaffee suchen. Es ist das bedrückende Gefühl der Bedeutungslosigkeit, das uns in diesem Bauwerk umfängt, eine aus der Melancholie entstandene Tristesse. Die Witterung ist dabei einerlei: Grau bleibt eben Grau, egal wie grell die Sonne auch scheinen mag. Ein Moloch von einer beängstigenden Eigendynamik ist hier entstanden, der uns durch die verspiegelten Wände in eine unerwünschte Zukunft blicken lässt.

Von den grauen Anzugmännern, die leben, um zu arbeiten, schlendern wir weiter. Wir sind auf dem Weg zu den sogenannten Berufsdemonstranten im Park. Wir kommen am rosa und hellblau gestylten Eiswägele vorbei und bleiben davor stehen. Die Besitzerin lächelt uns freundlich zu. Sie ist nicht enttäuscht, dass wir auf ihre obligatorische Frage nach unserem Wunsch keine zwei Kugeln Schokoeis ordern, sondern lediglich ein Gespräch mit ihr suchen. In netter und mütterlicher Art erzählt sie von den Kindern, denen sie hier ihr erstes Eis gegeben hat – und von den vielen Menschen, die sie über die Jahre hinweg im Schlossgarten kennengelernt hat. Schnell ist klar, wie viel das Bahnhofsviertel ihr bedeutet. Für sie reduziert es sich auf zwei Begriffe: Heimat und Existenzgrundlage. Jeder andere Standort für ihren Eiswagen bedeutet: Einbruch des Geschäfts sowie eine radikale Veränderung ihrer kleinen, liebgewonnenen und konstanten Alltagswelt inmitten des bunten Treibens im Park.

Nur noch einige Schritte entfernt liegt die letzte Station unseres Weges. Schon von Weitem sehen wir den bunt bemalten Zaun, der die Zeltstadt umgibt. Das Bild aus matschigem Boden und schlichten Zelten, das auf spießige Stuttgarter eher nicht einladend wirken mag, erinnert uns an diverse Musikfestivals. Ein verbrauchter Platz inmitten der guten Ordnung. „DON'T ENTRY“ steht am Eingang in großen, schwarzen Lettern. Dort treffen wir auf Britta, die uns mit einigen Bewohnern der Zeltstadt bekannt machen wird und uns das nötige Entree verschafft.

Nach kurzem Warten, in dem wir die bemalten Zeltkonstruktionen betrachten, werden wir von Britta und einem knapp 40-jährigen Mann namens Markus hereingebeten. Der Eingang des Zeltes ist ein waagerechter Spalt, sodass es fast eine akrobatische Meisterleistung ist, ins Innere zu gelangen. Auf dem Boden liegt Linoleum, mehrere Stühle stehen an den Wänden und ein Sofa grenzt den Schlaf- vom Wohnbereich ab. Die Küche besteht aus einem kleinen massiven Holzschrank, einer Herdplatte, auf der schon Teewasser brodelt. Außer ein paar Schlafsäcken, die auf den Sitzgelegenheiten liegen, ist es aufgeräumt. Während Markus uns Tee einschenkt, erzählt er vom Leben in der Zeltstadt. Er sei von Anfang an dabei gewesen. Auch über den Winter habe er hier gelebt. „Der Trick gegen die Kälte“, erzählt er, „nie den Kreislauf runter kommen lassen, immer in Bewegung bleiben.“ Sonst bekäme man die Kälte nicht mehr aus den Knochen.

weiter mit Teil 3

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