Die Fähigkeit des zweiten Blicks - Teil 3

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Der Schlossgarten als Mikrokosmos mit demokratischen Strukturen

Zurzeit leben rund 50 Menschen hier, sagt Markus. Unter ihnen befinden sich Leute, die tagsüber ihren Berufen nachgehen, beispielsweise eine Stuttgarter Rechtsanwältin. Andere widmen sich ganz dem Widerstand. Natürlich gibt es auch diejenigen, die sich nur zum Feiern der Zeltstadt angeschlossen haben. Schon im Winter kamen einige Trittbrettfahrer dazu, die ebenfalls den Schlossgarten mit ihren Zelten besiedelten. So entstand laut Markus das Lager der Punks und, noch näher beim Biergarten, das der Roma. Zwischen den einzelnen Lagern gibt es Meinungsverschiedenheiten, beispielsweise beim Thema Müll. Die etablierten Stuttgarter machten es sich zu einfach, wenn sie die Stuttgart-21-Gegner für die Müllreste allein verantwortlich machen, so Markus. „Im Gegensatz zu vielen unachtsamen Parkbesuchern achten wir nämlich auf die Entsorgung des Mülls.“ Der Park liege den Bewohnern der Zeltstadt als schützenswerter Ort am Herzen: „Deshalb sind wir ja hier.“

Und weiter berichtet er: „In der Zeltstadt werden alle aufgenommen, jedoch bleiben nicht alle hier.“ Das Leben mit vielen anderen Menschen auf engstem Raum fällt in unserer Gesellschaft schwer. „Der Egoismus des Einzelnen“, sinniert Markus, „ist in dieser Form des Zusammenlebens auf Dauer nicht tragbar.“ Im Schlossgarten hat sich nämlich ein Mikrokosmos mit demokratischen Strukturen etabliert. Markus beispielsweise verlor seinen Job, als sein Arbeitgeber in Insolvenz ging. Statt dem Klischee des fernsehenden Hartz-IV-Empfängers zu entsprechen, kam er in den Park. Seine Form der Gesellschaftskritik, seinen Beitrag zum Protest gegen Stuttgart 21 sieht er seit dem Herbst vergangenen Jahres in der Bewachung des Schlossgartens. „Die Zeit im Park hat uns alle verändert“, berichtet er. Anfangs war der Protest das verbindende Glied – nun sei es diese neue Form der Gemeinschaft. Wenn der Park nicht mehr beschützt werden muss, wollen sie zusammen woanders gemeinsam ein ähnliches Projekt weiterführen.

Zum Abschied werden wir gleich zum nächsten Grillabend eingeladen. Als wir aus der Zeltkonstruktion aussteigen, hat es aufgehört zu regnen und wir treten einem farbenfrohen, im Sonnenlicht strahlenden Park entgegen. Vor einem Tipi sitzt ein Mann, ganz in seine Yogafiguren vertieft, ein anderer beginnt das Essen vorzubereiten. Zurück in Richtung Bahnhof laufend, schauen wir noch einmal auf die Zeltstadt. Die Ruhe und Gelassenheit der Bewohner fällt uns auf, als wir wieder mitten im Alltag angekommen sind. Natürlich ist diese kleine Welt befremdlich und ein Kulturschock. Doch mit etwas Offenheit und Toleranz wird man, wie wir, von diesem sozialen Experiment direkt vor unserer Haustür positiv überrascht.

Zitat Ende

Quelle: einundzwanzig [Print Juli 2011]

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