David Sieveking will mit seiner Mutter ins Schwimmbecken gehen, aber die Mutter weigert sich. Sie ist dement, und so sehr das vorherige Bild in dem Ende Januar gestarteten Dokumentarfilm Vergiss mein nicht suggerierte, dass die Abwechslung, die der Sohn verschafft, der Kranken guttut, so unangenehm können einem die Überredungsversuche nun sein. Man weiß nicht, welche Beziehung Sieveking in diesem Moment zur Mutter hat: die des Sohnes, der das Beste will, oder die des Filmemachers, der auf ein Motiv aus ist.
Wolfram Huke sitzt in seinem Dokumentarfilm Love Alien, der 16. Mai in die Kinos gekommen ist, schon im Nass. Der Film handelt von einer Beziehung, die sein Macher nicht hat: von der Suche nach einer Freundin. Huke liegt in der Badewanne, und wenn er sich filmt und dabei durch die Kamera gucken will, muss es abwärts gehen. Man sieht also: die Quanten von Wolfram Huke.
David-Lynch-Fan
Die demente Mutter von Sieveking und die Füße von Huke sind Bilder, die eine Distanz aufheben. Sie stehen für eine Tendenz des dokumentarischen Films in den letzten Jahren. Der Dokumentarfilm sagt „ich“, und er sagt es selbst dann, wenn er das Ich nicht nötig hat. More than Honey etwa von Markus Imhoof, der vor ein paar Wochen den Deutschen Filmpreis erhielt, erzählt die Geschichte von weltweiter kapitalistischer Ökonomie am Beispiel der Bienen. Der Film steht in der Linie eines Filmemachens, das die Zusammenhänge des globalisierten Lebens nachzeichnet (Darwin’s Nightmare, 2004, We feed the World, 2005). Dass Imhoof sich dennoch zum Ich-Erzähler macht, hat mit der Genese des Stoffes zu tun: Der Filmemacher stammt aus einer Imker-Familie.
Vergleicht man die drei Filme in ihrem spezifischen Verhältnis zum Ich, fällt die Bilanz bei Imhoof zwiespältig aus. More than Honey braucht das Ich nicht, es stört aber auch nicht, weil sich der Film nicht mit der Familiengeschichte aufhält. Die Imkerei der Imhoofs ist der Ausgangspunkt für den Film. Womöglich gibt es zwei Erklärungen, warum Imhoof auch von sich redet, wenn er über die prekäre Ökologie der Blütenbestäubung im 21. Jahrhundert erzählt. Zum einen verpflichtet die Familiengeschichte. Zwar unterbricht Imhoof als Filmemacher die Traditionslinie der Väter, vermag diese aber durch den Film mit seinen Möglichkeiten (weiter) zu schreiben. Zum anderen macht die persönliche Verwicklung den komplexen Stoff scheinbar attraktiver für die, die ihn finanzieren sollen, weil Imhoofs Herkunft Emotionalisierung und Personalisierung verspricht, die beiden vorgeblichen Garanten einer Distanzverkürzung zum Rezipienten hin.
Der Reiz des in die Erzählung involvierten Filmemachers entfaltet bei Sieveking dagegen mitunter sensationistische Züge. Sieveking ist aktuell der Exponent eines – in aller definitorischen Fülle des Begriffs – selbstausbeutenden Dokumentarkinos. Als immer ein wenig torhafter Ich-Erzähler seiner eigenen Filme hatte er sich bereits mit David wants to fly (2010) positioniert. Der Debütfilm widmete sich gurugetriebener Selbstverbesserungsesoterik, einem abseitigeren Thema, das durch Sievekings persönlichen Einsatz aufgewertet wurde: Der Regisseur erzählte sich als Fan des Filmemachers David Lynch. Der wirbt für die sogenannte Transzendentale Meditation, eine Bewegung, der Lynch seinerzeit ein Quartier in Berlin suchte.
Die Interessen des Filmemachers
Das enthüllt der Film nach und nach als scheinbare Desillusionierungsgeschichte Sievekings. Der Zuschauer kommt jedoch nicht umhin, sich am Ende vom Ich-Erzähler für blöd verkauft zu fühlen, denn das behauptete Fantum für Lynchs Filme erweist sich in Kenntnis des ganzen Films als höchst flexibel – es weist nur den Weg zur eigentlichen Geschichte. Sieveking hätte den Film wohl auch gemacht, wenn ein anderer bekannter Filmemacher in Deutschland für ein obskures Selbstoptimierungsprogramm in Erscheinung getreten wäre; dann eben als dessen Fan.
Solche Unschärfen in der Erzählhaltung finden sich in Vergiss mein nicht, wenn man etwa nicht weiß, ob bei Sieveking der Sohn oder der Filmemacher aus Sätzen spricht, mit denen er die Fahrt ins Elternhaus erklärt: „Jetzt will ich mir mehr Zeit nehmen und sehen, ob ich helfen kann.“ Es steht nichts dagegen, das Leben der eigenen Mutter zu dokumentieren. Was beim Zuschauer nur das Gefühl der Täuschung zurücklässt, ist die Konstruktion, die durch das Ergebnis zum Schwanken gebracht wird – dass Vergiss mein nicht immerfort so tut, als handle der Film nur von der Sorge des Sohns und nicht von den Interessen des Filmemachers. Sievekings Ich ist eine Fiktion und keineswegs Ausweis verbriefter Echtheit. Anders gesagt: Das Ich ist in Filmen wie denen von David Sieveking nicht mehr das, was es einmal war. Kein aufrichtiger Bekenner intimer Gefühle, sondern eine Pose, die die Erzählhaltung des Films stützen soll.
So lässt sich immerhin die aktuelle Egomanie des Dokumentarfilms verstehen. Denn als Erklärung taugt zwar zum einen ein Produktionssystem, das von der Filmhochschule bis zu den Fördergremien Stoffe honoriert, die nah an den Geschichten ihrer Erzähler siedeln. Und es ist zum anderen nicht unerheblich, dass die Möglichkeiten, ein vergleichsweise unprominentes Leben wie das von Sievekings Mutter filmisch zu illustrieren, heute dank privater Mediatisierung mit Fotos und Heimvideos gestiegen sind.
Der Freund der Kommissarin
Entscheidend für den Zug zum Ich dürfte aber vor allem ein Drittes sein: die gesellschaftliche Entwicklung, die sich als Dokumentarfilmgeschichte erzählen ließe seit der autorlosen, scheinbar totalobjektiven „Wochenschau“. Eine durch soziale Medien wie Twitter, Facebook oder Blogs veränderte Kommunikationsweise führt heute zu einer Vielheit der einzelnen Produzenten, die für sich nicht mehr eine je allgemeingültige Erzählung beanspruchten. Welt ist nur noch, was in das eigene Sichtfeld passt – und ohne die Vermittlung durch das jeweilige Ich scheinbar nicht mehr zu erzählen. Auf diesen Effekt zielen die sogenannten Presenter-Reportagen im Fernsehen, bei denen der Redakteur selbst ins Bild tritt, um Recherchieren zu spielen – die Westentaschenvariante der Erfindung, die Michael Moore einst mit Roger & me (1989) geprägt hatte. Die Idee, dass etwas, was einem verwandt ist, tieferen emotionalen Ausdruck ermöglicht, kann man in jedem Tatort finden, in dem ein erstmals eingeführter Freund der Kommissarin Probleme hat.
Wo Petra Tschörtner 1989 in Unsere alten Tage vom Persönlichen (dem Tod der eigenen Großmutter) aufs Gesellschaftliche schloss (das Porträt von „Feierabendheim“-Bewohnern), lässt sich bei Sievekings Film über die demente Mutter heute das Allgemeine im Privaten finden – das Los von Sievekings Mutter ist das Passepartout, in das Angehörige von Pflegebedürftigen ihre eigene Geschichte integrieren können; die gebremste Vita der linksliberalen Frau kann als Beispiel für die Schwierigkeiten des weiblichen Emanzipationsprozesses in Westdeutschland verstanden werden. Über Sievekings Ich ließe sich in Analogie zu Imhoof sagen, dass es in gewisser Weise gebraucht wird (wobei sich Vertrauen zu Familien mit Demenzkranken wohl auch aufbauen ließe), aber eben auch stört in seiner koketten Selbstinszenierung.
Wolfram Hukes Film gäbe es ohne Ich gar nicht. Das wäre die dritte Art von Filmen, in denen der Autor präsent ist. Sie sind derart intim, wie es paradoxerweise nur öffentlich, also durch die Kamera auszuhalten ist. Tatsächlich findet Huke in der Erzählung seiner Jungfräulichkeit und dem von leeren Pizzaschachteln umgebenen Alleinsein in der Ein-Raum-Wohung anfangs zu einer provozierenden Offenheit. Dass Love Alien scheitert, der relativ kurze Film in der zweiten Hälfte rapide an innerer Spannung verliert, hängt folglich auch damit zusammen, dass Huke, wie ihm die Therapeutin bescheinigt, nicht ernsthaft an einer Änderung seiner Situation interessiert ist.
Im Übrigen sagt Huke, wenn er mit sich selbst spricht, immer nur „du“.
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