Wenn einem Film ein solcher Ruf vorauseilt wie Toni Erdmann seit seiner Premiere in Cannes, dann guckt man diesen Film, der nun in die Kinos kommt, nicht mehr allein. Dann sitzt die Begeisterung, von der berichtet wurde, neben einem und schaut einen erwartungsvoll an, wenn man einen Seitenblick wagt: Dir geht es doch wie mir, oder?! Das Faszinierende ist, dass die Begeisterung, wenn man sich nach Ende des Films, nach zwei Stunden und 42 Minuten, zur Seite wendet, die Maske der Verwunderung aufgesetzt hat: dass ein Film, der so viele Sachen nicht macht, die Filme sonst machen, diese Begeisterung gewinnen konnte.
Wenn also Toni Erdmann etwa gegen Ende nicht mehr jenen Handlungsrationalisierungen folgt, die Konvention heißen, sondern sich den Bewegungen seiner Figuren zu überlassen scheint – wie die Tochter dem Vater von der Nacktparty im Morgenmantel in die Stadt folgt, durch die Straßen, in die Parks, zwischen den Menschen, die zum ersten Mal vorkommen als „themselves“, wie es im Credit heißen müsste, als gewöhnliche Menschen, wo es Menschen bis dahin immer nur als Statisten einer bestimmten Schicht gegeben hat. Und dass das vielleicht gar nicht der Vater ist, der in diesem tollen bulgarischen Kukeri-Ganzkörperfell mit Kopfturm steckt, dass das auch etwas ganz anderes sein könnte. Oder zumindest mehr als der Vater.
So wie Toni Erdmann mehr als eine Familiengeschichte ist, die der Plot suggeriert. Dem von der Mutter getrennt lebenden Vater (Peter Simonischek) ist der Hund gestorben und die erwachsene Tochter (Sandra Hüller) distanziert, die in Bukarest als Unternehmensberaterin arbeitet, um sich für Aufgaben an prominenteren Orten des global zirkulierenden Geldes zu empfehlen. Also fährt der Vater die Tochter besuchen, die mit Besuch aber schlecht umgehen kann, weil sie permanent arbeitet, und mit dem Vater noch schlechter, weil er ihre Welt nicht versteht mit seinen Käsereiben und trockenen Scherzen.
Oder so etwas Ähnlichem. Denn zu den Qualitäten von Maren Ade gehört, dass sie ihren großen Humor mit einer Nüchternheit dirigieren kann und man am Ende nicht mehr weiß, wie man dazu sagen soll. Komödie ist Tragödie plus Zeit, heißt ein Woody Allen zugeschriebener Satz. Toni Erdmann funktioniert im Grunde umgekehrt, da bleiben die Witze so lange stehen, dass sie nicht durch Lachen kassiert werden, zugleich stoppt der Film aber präzise vor dem Punkt ab, an dem es tragisch, das Scheitern irreversibel werden könnte.
Balkon in Bukarest
Dazu passend besteht die intensive Attraktion des Films aus einem negativen Gefühl. Toni Erdmann hält seine Zuschauerin nicht bei der Stange, indem er ihr schmeichelt, sie charmiert, einen Gag nach dem anderen abfeuert, sondern durch die schwer aushaltbare, aber ziemlich tiefe Empfindung, die Peinlichkeit ist. Man leidet beim Zusehen und muss gerade deswegen hingucken. Wenn die Tochter den Vater zu einem Empfang mitnimmt, auf dem sie ihren Hauptkunden (Michael Wittenborn) umgarnen will, und dem Vater vorsorglich entsprechend strenge Verhaltensvorschriften macht, dann besteht die Spannung der ganzen Szene darin, ob es dem Vater gelingen wird, sich daran zu halten.
Beziehungsweise, ob es ihm überhaupt gelingen sollte. Die Vater-Tochter-Geschichte spielt in der Expat-Unternehmensberaterinnen-Blase in Bukarest, einem Ort fern der Wirklichkeit, einer Eishölle aller menschlichen Regungen, in der so viel Geld unterwegs ist, so viel Macht sich ballt, dass den Mikrokosmos nicht ignorieren kann, wer von der Welt erzählen will. („I like countries with a middle class, they relax me“, sagt die von Victoria Malektorovych gespielte Frau des Hauptkunden, als sie sich nach Shopping-Tipps erkundigt).
Toni Erdmann will trotz seines irrwitzigen Detailreichtums genau das: von der Welt erzählen. Die Familiengeschichte, könnte man sagen, ist nur Vorwand, ein Trick, um mit zwei konkurrierenden Perspektiven in die Anzugträgerschicht unserer Verhältnisse vorzudringen.
Mit den Augen der Tochter, die das Scheißspiel mitspielt, um nach oben zu kommen, in größere Höhen, an wichtigere Orte, wo andere Entschädigungen warten als die große leere Wohnung mit dem riesigen Balkon in Bukarest (deren Größe nur ihre von Ingrid Bisu gespielte Assistentin, die niedriger gestellte Ortskraft bemerken kann, weil das für sie nicht selbstverständlich, sondern Sehnsucht wäre). Und mit den Augen des Vaters, der als pensionierter Lehrer eben die scheinbar weniger entfremdete Mittelschicht repräsentiert, ohne deshalb der bessere Mensch zu sein. „Ich kann dir in jedem Schritt, den du machst, ganz genau erklären, wie direkt deine ökonomische Verbindung zu diesen Leuten ist“, sagt die Tochter, nachdem der Vater die Entlassung eines Arbeiters nicht hinnehmen wollte. Dann ist Ruhe.
Whitney Houstons Song
Peinlichkeit ist in Toni Erdmann ein Mittel der Distanznahme. Sie schützt davor, den Reizen der Identifikation zu erliegen. Denn mit der Tochter als Protagonistin um Erfolge zu bibbern, hieße für den Betrachter ja, zufrieden zu sein, wenn sie ihr Massenentlassungsprojekt durchbekommt. Und die Peinlichkeit gestattet eine gewisse Naivität, Liebeliebeliebe, ein pubertäres Echtheitsding wie die Generalfrage des Vaters: „Bist du überhaupt ein Mensch?“ Oder die Whitney-Houston-Schnulze Greatest Love of All, die Tochter und Vater einmal verbindet. Überall anders würde man solche Dinge wegen eines akuten Kleiner-Prinz-Schocks fliehen, hier geht das ohne Kitsch ab.
So wie der merkwürdige Humor des Vaters – der sich der Tochter erst annähern kann, wenn er sich als Fake-Coach Toni Erdmann mit falschen Zähnen, lächerlicher Perücke und Ion-Tiriac-Gestammel entwirft und in der Welt des Scheinens, Glaubens, Behauptens freilich für möglich gehalten wird – dabei hilft, dieses Scheinen, Glauben, Behaupten sichtbar zu machen.
Toni Erdmann ist ein großer Film, der das, was Christoph Hochhäuslers Unter dir die Stadt und Christian Petzolds Yella zu Gesten und Bildern verknappt haben, als eine Landschaft entfaltet. So wie Ades zweiter Film Alle Anderen (2009) ein Katalog der zwischenmenschlichen Beziehungen ist, erscheint Toni Erdmann als einer der ökonomischen. Erzählt werden die Abhängigkeiten, Hierarchien, Zwänge über den abgerichteten Körper von Sandra Hüller versus das konturlose Massiv, das Peter Simonischek darstellt. Nacktheit bietet keinen Ausweg, wie der Verlauf des Empfangs zeigt, befreit aber kurzzeitig aus dem Gefängnis von Kleidern und High Heels.
Info
Toni Erdmann Maren Ade D/Ö 2015, 162 Min.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.