Gestern beim Frühstück

Tatort Zurück im Sumpf der Ödnis: Der Stuttgarter "Tatort: Das erste Opfer" hat nichts mit den naheliegenden Bahnhofsstreitigkeiten zu tun, er behandelt dröge olle Kamellen

Könnte Ulm sein. Zumindest der Weg dahin, die Neubaubahnstrecke, die am Ärger hängt, den Stuttgart 21 verursacht hat. Denkt man sich, weil man doch jetzt endlich sehen will, wie der Stuttgarter Tatort aus Stuttgart 21 einen Sonntagabendkrimi zurechtzimmert, der sich gewaschen hat, weil es ihm gelingt, worum sich Heiner Geißler durch sein epochales Radiointerview endgültig gebracht hat: die Versöhnung des schwäbischen Volkes.

Vermutlich haben wir keine Ahnung von den Produktionsabläufen beim Tatort-Dreh (gedreht wurde Feb/Mär 2011), hatten wir letzens doch noch geglaubt, die Vorahnung des Ungemachs am Baulöwen-Alternativ-Hotspot-Konflikt-Tatort ablesen zu können. Und gleich darauf gesetzt, dass die neue Revolutionsrealität umgehend Eingang ins das Gesellschaftsschaufenster des SWR, dass der Tatort ja doch ist, finden müsste. Dass für Das erste Opfer gleich drei (Zeitdruck!) Autoren (Stephan Brüggenthies, Leo P. Ard, Birgit Grosz) verantwortlich zeichnen, schien uns ein ebenso gutes Zeichen zu sein wie der Titel – Das erste Opfer klingt nach moralisierend-drohender Eskalation, wie sie Geißler mit seinem Goebbels-Zitat etwas übertrieben hat.

Aber, ach, der erste Mord findet zwar auf einer Baustelle statt (wenngleich man sich fragt, ob durch ein wenig Bewegung diesem Radlader auszuweichen nicht auch möglich gewesen wäre) und an einem Bauernunternehmer dazu. Aber dann entpuppt sich das Ganze bald als reine, nämlich völlig unpolitische Rachegeschichte, die man nicht mal auf der Stuttgarter Vertikalen (unten sterben die Opfer und oben wohnen die Täter) verorten wollte, wiewohl die hier durchaus angelegt werden könnte. By the way: War das, wo Börners wohnen, nicht dieses endkrasse Werner-Sobek-R128-Glashaus – und wenn ja, warum wird, wenn man da schon mal drehen darf, nicht mehr gezeigt als Eingang und Wohnzimmer?

Der grimme Schnitter

Nun – wer wüsste das besser als wir – ist es immer schwierig, nach einer Fahrt im Dreamliner unserer kühnsten Vorstellungen wie in dem canonicanonischen Boro-Tatort von letzter Woche wieder Boden unter die Füße zu kriegen – in den Sumpf der Ödnis, die Nicolai Rohde mit Das erste Opfer angerichtet hat, muss man aber nicht gleich abstürzen. Der Auftakt mit ungewöhnlicher Tötungstechnik (allerdings unterlegt von cheaper Metalmucke; Musik: Johannes Kobilke) und Freund Hein, dem grimmen Schnitter, der in branchenbewusster Kapuzenkutte sein Werk zu Ende bringt, birgt ein Potential an Trashigkeit, von dem die Regie aber leider nichts wissen will. Es geht dann nämlich so weiter, wie man sich urbanisiertes "Bauerntheater" vorstellen muss: Nicht ganz so derb, aber mindestens so dämlich. Dauernd werden Sätze gesagt, bei denen vergessen wurde, die Regieanweisung abzumachen (Bootz, als es auf Rache hinausläuft: "Ein klassisches Motiv"), ein Aufsage-Tatort, der die Konstruktion des Falls durchspricht wie Christian Wulff einen Staatsakt.

Die lahme und sterile Inszenierung (auch daran sieht man, was gutes Timing wie letzte Woche wert ist) verdammt die Schauspieler zu den schlechtesten Saisonleistungen in der Bundesligageschichte von Lannert-Bootz. Höhepunkt ist die Soko-Nummer im Revier, wenn lonely Lannert (Richy Müller) die Arbeit an lauter Pappnasen verteilt, die, damit's echt wirkt, noch mit Namen angesprochen werden (Holger, Karsten, Kai) und daraufhin möglichst echt nicken. Man muss dann an den großen Christian Petzold denken: "Wenn Komparsen spielen in Bildern, die wie dokumentarisch daherkommen, dann hat der Film etwas nicht gesehen, oder sich nicht die Mühe gemacht, etwas zu sehen. Dann hat er keine Geduld. Dann hat er nur ein Programm."

Das Programm von Nicolai Rohde – man hätte es wissen können nach seinen Kinofilmen Zwischen Nacht und Tag (U-Bahn-Fahrer-Traumatisierungsgeschichte mit Richy Müller) und 10 Sekunden (Überlingen-Flugzeugcrash-Traumatisierungsgeschichte ohne Richy Müller) – ist die Traumatisierung. Die hängt aber immer nur wie eine trächtige Gewitterwolke über allem, ohne dass es je regnete, soll heißen, es wird immer nur behauptet, alles ist schon da, nichts zu sehen. Wenn die Joswig-Frau (Julika Jenkins) ihren Mann am Ende fragt, warum er ihr nie von der Fahrerflucht nach dem Verkehrsunfall an dem Mädchen Rosendorf erzählt hat ("Wie konntest du das für dich behalten, vor mir verbergen?"), möchte man ihr gern den Hinweis geben, dass das so schwer nicht sein kann; schließlich hat sie den ganzen Film über nicht gecheckt hat, wie merkwürdig ihr Mann (Hans-Werner Meyer) druff ist, wo doch ein des Sehens halbwegs mächtiger Zuschauer sofort erkennt, dass da was nicht stimmt. Es stimmt so vieles nicht: wie unbeteiligt Horsch (Peter Kremer) sein verdrecktes, in ein Verbrechen verwickeltes Auto wiedererkennt; wie kindisch Vater Rosendorf (Hannes Hellmann) ausbüxt und noch mal hochschaut zu den Kommissaren.

Schnell kommt die Nacht

Warum sich der Joswig-Mann so verhält, wie er sich verhält, ist mit Psychologie auch nur bedingt zu erklären. Besser mit der ächzenden Konstruktion, die ihn solange als Kaninchen vor der Schlange des Rachefeldzugs von Rico aka Henrik (Johannes Allmayer) sitzen lässt, bis die Ermittler das Puzzle zusammengesetzt haben. Und dann ist der noch mal spannende, finale, ausgeklügelte Mordversuch am Joswig-Mann, den wie bei David Finchers Sieben die Kommissare selbst ausführen sollen, arrangiert wie ein Anfängertrick im Zirkus. Wobei Rico/Henrik natürlich von Beginn aussieht wie ein Psychopath, was Nika (Miranda Leonhardt) allerdings entgeht, die zur Ablenkung mit dem Scandienstleister flirtet. Überhaupt, auf die ehrbare Branche der Scandienstleister wirft dieser Tatort kein gutes Licht.

Hübsch sind allein die Prüfungen, die busy Bootz auferlegt werden: Julia ist auf Dienstreise, er allein mit den Kindern, und Miriam, die Babysitterin, kriegt's nicht gebacken. Auch hier zeigt die Regie nur vor, statt Stress zu performen, die verfrühten Empfehlungen Bootzens beziehungsweise sein Zuspätkommen – eigentlich egal, Lannert quittiert alles in einer so unentschiedenen Mischung aus "Geht nicht" und Verständnis, dass man sich fragt, warum Bootz überhaupt die Unvereinbarkeit von Arbeit und Familie auf die Tagesordnung setzen muss. Und wie zum Beweis, dass es darum nicht geht, bricht Bootz am hellerlichten Tag, wenn Lannert noch Kaffee trinkt, aus dem Büro auf, weil die Kinder angeblich nicht schlafen wollen. Immerhin ist dann, wenn er wenig später zu Hause ankommt, Nacht.

Es wird schnell Nacht in Stuttgart.

Ein Lover-Name, der das Herz des HSV-Fans höher schlagen lässt: Heiko Westermann

Quereinstieg, wie man ihn nur aus den USA zu kennen glaubte: Staatsanwalt Horsch sattelt nach seiner Entlassung vor 15 Jahren (hat er noch mal studiert?) auf Architektur um und scheint's rasch zu was gebracht zu haben

Ein kindersicherer Waffenaufbewahrungsort: die Flurgarderobe, oberste Schublade (bei Joswigs)

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