"Hotel Very Welcome"

Im Kino Von Lord Chesterfield, einem Reisenden des 18. Jahrhunderts, stammt die Bemerkung, dass die Grand Tour mit allen ihren Mühen und Wonnen im Grunde ...

Von Lord Chesterfield, einem Reisenden des 18. Jahrhunderts, stammt die Bemerkung, dass die Grand Tour mit allen ihren Mühen und Wonnen im Grunde eine Metapher der Reise durch das Leben sei. An dieser Auffassung hat sich bis heute nicht viel geändert, wie sich am Reisen, abgesehen von Äußerlichkeiten, nicht viel geändert hat: Die Grand Tour, die vor über 200 Jahren den modernen Tourismus begründete, firmiert heute als Rucksacktourismus. Nur auf den ersten Blick erscheint die vergleichsweise bescheidende Ausstattung des Backpackers als klassenloses Gegenbild zum Privileg der Grand Tour, das allein jungen Adeligen vorbehalten war. Im Zeitalter, in dem Tourismus zum Massenphänomen geworden ist, taugt nicht länger die Reise selbst zum Mittel der Distinktion, sondern nur mehr die Art und Weise des Unterwegsseins. Der Rucksacktourist hebt sich vom zweiwöchigen Pauschalurlauber im All-Inclusive-Ressort ab durch Dauer und Strapazen seines Lonely Planet gesteuerten Trips, bei dem er immer nur Gleichgesinnte trifft: junge Leute des wohlständigen Westens auf der Suche nach einem möglichst realistischen Eindruck des Fremden und sexueller Erfahrung. Womit wir wieder bei der Grand Tour wären.

In Hotel Very Welcome, dem Abschlussfilm von Sonja Heiss an der Münchner Filmhochschule, wird der Rucksacktourismus nun ebenso wie zuvor Zivildienst (etwa: Nichts bereuen von Benjamin Quabeck) oder Erasmus-Austauschstudium (etwa: L´Auberge Espagnol von Cédric Klapisch) als Alltagspraxis des modernen Lebens zum Gegenstand fürs Kino. Dabei schwankt der Film unweigerlich zwischen dem Exotismus, der sich aus dem Kontrast von Wohlstand der Reisenden und Armut der bereisten Länder (hier: Indien und Thailand) ergibt, und der Emphase des Spartanischen, die aus Drehbedingungen und Backpacker-Philosophie resultiert.

Erzählt wird in Episoden: Marion (Eva Löbau) sucht Abstand von ihrer gescheiterten Beziehung durch Selbstfindung in indischer Esotherik. Liam (Chris O´Dowd) verdrängt einen folgenreichen One-Night-Stand durch dauerhaften Rausch in Indien. Joshua (Ricky Champ) und Adam (Gareth Llewelyn) verlagern die Ungleichwertigkeit ihrer Freundschaft an thailändische Goa-Strände. Und Svenja (Svenja Steinfelder) telefoniert in einem Hotelzimmer in Bangkok ihrem verpassten Anschlussflug hinterher. Tatsächlich wird ausgerechnet dieses Treffen, das fast ausnahmslos in der Vorstellung des Zuschauers spielt, zur intensivsten und heitersten Begegnung mit der fremden Kultur, die sich in Verständigungsschwierigkeiten in einer für beide erlernten Sprache manifestiert.

Seine besten Szenen verdankt Hotel Very Welcome der dokumentarischen, wenn man will, gelebten Arbeitsweise seiner Regisseurin und ihres Ko-Autors und Kameramanns Nikolai von Graevenitz: Wenn die großartig Selbstverwirklichungsdarstellerin Eva Löbau am Pool der Meditationstouristenanlage mit einem schwäbischen Gast über die Vorzüge der Herberge ins Gespräch kommt. Oder wenn Liams Ritt auf dem Dromedar nicht nur durch die Einsamkeit der pittoresken Wüste führt, sondern auch die Geschäftigkeit der Attraktion Dromedarreiten offen legt.

Im Ganzen aber bleibt Hotel Very Welcome in der Wechselhaftigkeit seines Episodencharakters gefangen. Hat man sich in einer Geschichte akklimatisiert, wird zur nächsten weiter geschaltet, und nicht immer lässt sich das Tempo der Gefühlslagen synchronisieren. Das dramaturgische Gerüst der einzelnen Teile spendet etwas schematisch ironisch-dürren Trost, weil das Reisen sich als scheiternder Versuch entpuppt, den Sorgen des wahren Lebens zu entkommen. Am schönsten ist es doch zu Hause, und die Reise im Grunde eine Metapher.

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