I went to the house, but did not enter

Bühne Wann geht's denn los? Tino Sehgals "Stück (ohne Titel)", Jerôme Bels "The Show must go on" und Heiner Goebbels "I went to the house, but I did not enter" in Berlin

Wo das Theater anfängt und wo es aufhört, sind Fragen, über die sich die Wissenschaft den Kopf zerbricht. Der interessierte Zuschauer geht ins Theater, um eine Inszenierung zu sehen, die notwendigerweise einen Anfang und ein Ende hat, in der Regel darüber aber nicht nachdenkt. Das war am vergangenen Wochenende in Berlin anders, und das war ein Glück.

Im Theater Hebbel am Ufer ging ein Festival, das sich unter dem Titel Fressen oder fliegen dem Verhältnis von bildender Kunst und Theater widmete, mit einem double feature zu Ende, wie man im Kino sagen würde. Gezeigt wurden Stück (ohne Titel) von Tino Sehgal und The Show must go on von Jérôme Bel. Beide Arbeiten datieren von der letzten Jahrhundertwende und sind Performances, insofern sie nur im Moment ihrer Aufführung existieren. Man könnte sie zwar nachspielen, weil es durchaus eine sehr strenge Partitur gibt, aber auf die Idee würde wohl keiner kommen, weil man auf die Ideen, die Sehgal und Bel hatten, nur einmal kommen kann.

Bei Sehgal geht am Anfang ein Vorhang hoch, wie das im Theater nicht ungewöhnlich ist, aber dann kommt der Vorhang schon wieder runter, und später setzt Musik ein, und am Ende besteht das ganze kurze Stück darin, dass der Vorhang, der gewöhnlich nur den Blick freigibt aufs Theater, das Theater selbst ist. Man glaubt, den Vorhang tanzen zu sehen. Und man glaubt auch, die Mühe zu sehen, die es ihm macht, mit dem Tempo der Musik mitzuhalten, wie man nach einer Weile überhaupt glaubt, alles zu sehen, was man sonst im Theater sieht, das aber nur in diesem Vorhang.

Applaus, Applaus, Applaus

Bei The Show must go on gibt es keinen Vorhang. An seine Stelle treten gut zwei Dutzend Songs aus der Popgeschichte, die den 16 Darstellern, aber eigentlich dem ganzen Theater die Regieanweisungen liefern. Die Inszenierung endet nicht, wie mancher Besucher, der das Prinzip verstanden hat, vielleicht mutmaßen würde, mit The End von den Doors, sondern lässt die Performer sterben zu Roberta Flacks Killing me softly, weil es ja Theater ist. Weil im Theater zwar viel, aber immer nur zum Schein gestorben wird, stehen die Darsteller zum letzten Stück, dem Titel gebenden Queen-Song, wieder auf, und das ist selbstreferentiell und sardonisch zugleich: The Show must go on, die von der Musik angeleiteten Akteure verbeugen sich, das Publikum applaudiert, was ja auch zur "Show" gehört, und wenn der letzte Ton verklungen ist, ist wirklich Schluss: Es gibt kein Theater außerhalb der Inszenierung.

Das ist eine Erfahrung, die der Betrachter auch bei Heiner Goebbels neuester Komposition in der Spielzeit Europa machen kann. I went to the house, but did not enter ist ein Abend, der mühelos die Grenzen überschreitet zwischen den Sparten, die sich in der Bühnenbuchhaltung herausgebildet haben. Das Hilliard Ensemble – David James, Rogers Covey-Crump, Steven Harrold und Gordon Jones – singen und sprechen in vier Bildern Texte von T.S. Eliot, Maurice Blanchot, Franz Kafka und Samuel Beckett, eine Art Sinfonie des Unsagbaren: I went to the house, but did not enter versucht rätselhaften Texten der abendländischen Literatur auf die Spur zu kommen, in dem die Inszenierung der Sprache selbst nachhört: "Durch die Worte fiel noch ein wenig Tageslicht", heißt es einmal bei Blanchot, "Es ist ein Wunder, dass wir nicht singen", bei Kafka. Dabei singen die vier unentwegt.

Und das ist vielleicht der Grund, warum der Abend nicht zur Gänze glückt. Anders etwa als in Goebbels' Canetti-Variation Eraritjaritjaka (Freitag 48/2004), in der den Musikern vom Mondrian Quartet der Schauspieler André Wilms als Kontrast beigesellt war, und anders auch als in dem schauspielerlosen Stifters Dinge, wo Sprechclips vom Band das Walten der Bühnenmechanik unterbrachen, bleiben die schwierigen Texte manchmal auch gefangen in der Hermetik des Gesangs. Das Misslingen aber findet auf hohem Niveau statt: Von strenger Schönheit sind die Bühnenbilder (Klaus Grünberg), ein grauer Salon, ein Vorstadthaus, ein kantiges Hotelzimmer, die durch einen schwarzen Vorhang voneinander getrennt sind. Die Umbauten finden bei offenem Blick auf die Bühne statt, und wer das für eine Pause hält, der irrt: Das Theater hört während des konzentrierten Schiebens der Bühnenarbeiter nicht auf.

Vielleicht fängt es da sogar erst an.

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Geschrieben von

Matthias Dell

Filmverantwortlicher

Matthias Dell

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