Jeder ist 1 Volk

Theaterdokumentation Christoph Schlingensiefs „Chance 2000“ als Kommentar des Heute
Ausgabe 36/2017

Auf der einen Seite ist es durchaus amüsant, in den Kritiken vom Frühjahr 1998 zu lesen, die sich einen Begriff von Christoph Schlingensiefs damaligen Chance-2000-Aktivitäten machen wollten. Die Zeit konstatierte, „die Sache ist ganz gut gemeint“, um „die Sache“ Schlingensiefs auf das Branding einer Künstlermarke zu reduzieren: „Seine Botschaft aber galt dem ‚Wahlkampf‘: ‚Das sind alles Spaßparteien im Bundestag‘, wetterte er und forderte: ‚Wählt Euch bitte selber!‘ Will sagen: Wählt Schlingensief, der das kollektive Ego der Verstoßenen und Gescheiterten zu verkörpern glaubt.“

Die Frankfurter Rundschau beklagte erfahrungsgesättigt: „Es ist aber auch schon länger her, daß das ein interessanter Ansatz war. Die Verwurstung des Zuschauers zwischen Inhaltsleere und Selbstreferenz ist ein alter Hut. Daß eine Medienkampagne keine Inhalte braucht, daß die Medien die Wirklichkeit ersetzen, daß wir nicht mehr wissen, wo vorne und wo hinten ist: mit ein bißchen mehr Pep hätte das schon unter die Leute gebracht werden können.“

Und die Berliner Zeitung kam in einem Kommentar zu einem historisch bedrohlichen Schluss: „Insofern ist es ganz falsch, den Regisseur als Zyniker zu betrachten; er ist, weil er für die formalen Garantien der Freiheit keine kreatürlichen Freiheiten zu opfern bereit ist, sozusagen ein anthropologischer Fundamentalist, ein Expressionist, nicht unähnlich jenen Intellektuellen, die mit ihrem Spott zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen haben.“

Atemlos-freudige Kraft

Andererseits ist es natürlich auch ungerecht, auf die Beschreibungen vielfältiger und langwieriger theatraler Gegenwart von damals mit den Augen zu schauen, die gerade den zweistündigen Film gesehen haben, den Frieder Schlaich und Kathrin Krottenthaler unter dem Titel Chance 2000 – Abschied von Deutschland aus dem damals gedrehten Material zusammengestellt haben.

Denn der Film komprimiert die über ein halbes Jahr verteilten Aktionen in eine überschaubare Chronologie – vom Wahlzirkus im Berliner Prater, der Einkaufstour im KaDeWe, diversen Talkshow-Auftritten und dem Happening am Wolfgangsee (als Schlingensief zur Urlaubszeit des damaligen Bundeskanzlers Kohl mit sechs Millionen Arbeitslosen den Wasserspiegel spürbar ansteigen lassen wollte) bis zum gefeierten „Wahldebakel“ im September. Wo Axel Silber („Hier ist mein Handy, der Landeswahlleiter hat eben angerufen“) das Ergebnis behauptete: „64 Prozent, wir haben’s geschafft.“

Der Film Chance 2000 – Abschied von Deutschland ist mehr als der späte Gang ins Archiv einer Kunstaktion. Seine Wirkung verdankt sich dem Zeitpunkt des Kinostarts – drei Wochen vor der Wahl 2017 in einem Land, das heute in ein ganz anderes Gesicht schaut als das lausbubenhafte von Christoph Schlingensief (dessen Charme noch in den Mienen der routiniertesten mikrofonbewehrten Befragerinnen Eindruck machte). Chance 2000 – Abschied von Deutschland erscheint wie ein Kommentar zu den Polarisierungen, die die politische Auseinandersetzung heute bestimmen, wie eine Vorgeschichte zum völkischen Furor heute, die in ihrem selbstbewussten, theatral befeuerten Humanismus zugleich eine Alternative für das Deutschland aufzeigt, in dem nicht alle gut und gerne leben.

Man merkt das an den Begriffen von damals, die heute zum Teil immer noch den Diskurs prägen. So spricht Schlingensief vom „Volk“, allerdings nicht in jenem abgrenzenden, rassistisch verschworenen Sinne, mit dem die AfD ihr Lagerfeuer heizt. Bei Chance 2000 soll das Volk zerlegt werden in seine Einzelteile wie in einer mathematischen Gleichung: Jedes Individuum ist „1 Volk“. Und die Antwort auf die Marginalisierung großer Gruppen heißt Empowerment durch Additon. „Wähle Dich selbst“ meint keinen Aufruf zur Bürgerwehr, sondern die Entdeckung des eigenen Ichs als Teil einer Bewegung: „Ich fordere Sie auf, wählen Sie sich selbst, wir wissen, wie das geht.“

Schlingensief erscheint als charismatischer Vorangeher, dessen atemlos-freudige Kraft ein Ereignis ist. Er will aber gar nicht andere repräsentieren (oder als Repräsentant Privilegien genießen) oder, wie es in der Zeit-Kritik hieß, ein „kollektives Ego verkörpern“.

Das Leben, das Leben!

Schlingensiefs mediale Attraktivität (in einer der tollsten Szenen sitzt er in der Talkshow von Sabine Christiansen und demonstriert mit selbstgemachten Grafiken den Erfolg seiner Partei) funktioniert wie ein Scheinwerfer, der sich tatsächlich auf die „Unsichtbaren“ richtet: auf die realen Existenzen der damals sechs Millionen, deren Realität eben nicht verschwindet, wenn die Statistiken weniger dramatisch sind. Es geht immer um „das Leben, das Leben, das Leben“, wie er ganz am Ende emphatisch ruft, und der Beweis für die Ernsthaftigkeit dieses Entwurfs ist seine Kompagnie, die vor Chance 2000 und danach bestanden hat und in der auf eine für das deutsche Theater einmalige Weise Schauspieler wie Bernhard Schütz, Astrid Meyerfeldt oder Martin Wuttke neben Marginalisierten wie Achim von Paczensky, Kerstin Grassmann oder Werner Brecht agierten.

Es sagt also viel mehr über den Dünkel der bürgerlichen Theaterkritik, wenn Helmut Böttiger in der FR in dem selbstverständlichen Mitmachen von Menschen mit Behinderung reflexhaft-gelangweilt nur „Anti-Correctness-Szenen“ erkennen konnte. Das ist die Distanz zwischen oben und unten, die die deutsche Gesellschaft bis heute prägt: Das Sichtbarwerden von etwas, das einem fremd ist, wird mit dem – in seiner Begriffsverunklarung noch nicht einmal verstandenen – „Korrektkeits/Inkorrektheits“-Tool abgetan.

Chance 2000 – Abschied von Deutschland ist Mahnung und Traum zugleich: die mit allem theatralen Zauber gefeierte Behauptung, dass diejenigen, die keine Stimme haben, als lauter Bürger-Ichs hervortreten können. Ganz ohne Aggression und Hass. „Der Blick in das Gesicht / eines Menschen, dem geholfen ist / ist der Blick in eine schöne Gegend / Freund, Freund, Freund“, geht die kindlich-schöne Hymne der Partei.

Was wäre das für eine Welt, in der sie von allen gesungen würde?

Info

Chance 2000 – Abschied von Deutschland Frieder Schlaich, Kathrin Krottenthaler Deutschland 2017, 125 Minuten

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