Wer genug Zeit hat, kann sich in diesen Tagen ein in früheren Zeiten beliebtes Double Feature basteln aus den beiden späten Schneewestern The Revenant von Alejandro González Iñárritu (Freitag 01/2016) und The Hateful Eight von Quentin Tarantino. Beide Filme kommen auf Minutenlängen, die in Metern gezählt nur auf Skiflugschanzen erreicht würden, um ein jahreszeitlich angemessenes Bild für die Epik der Erzählung zu wählen: 156 beziehungsweise 167 (bei der 70-Millimeter-Kopie sogar: 187) Minuten.
Als Reihenfolge empfiehlt sich Chronologie. The Revenant spielt vor der Ordnung, die sich in The Hateful Eight zu etablieren beginnt. Leonardo DiCaprios Dauerleider Hugh Glass muss bei Iñárritu noch selbst am Leben bleiben, um Gerechtigkeit zu bewirken. Bei Tarantino ist die Suche nach Verbrechern dann schon an ein System aus vorpolizeilichen Kopfgeldjägern delegiert, wie Kurt Russells tumber John Ruth und Samuel L. Jacksons eloquenter Major Marquis Warren sie vorstellen.
Beziehungsreich ist die Verbindung der beiden Filme über Oscar-Nominierungen hinaus (dass DiCaprio seinen Darstellerpreis verdient haben soll, während Jackson um diesen nicht einmal konkurrieren darf, ist nur mit dem strukturellen Rassismus westlicher Gesellschaften zu erklären); nämlich bei den Materialfragen. In The Revenant löst Emmanuel Lubezkis Arri Alexa 65 das Bild digital höchst auf, verdankt sich die visuelle Brillanz des Films des kompakten Geräts, das es auch ermöglicht, durch die monumentalen Landschaften zu schweben und den panoramatischen Blick um Subjektiven zu ergänzen. Bei The Hateful Eight regiert dagegen die gravitätisch-weite Eleganz des 70-Millimeter-Cinemascope-Bilds (Kamera: Robert Richardson).
Tarantinos Projekt einer Aufpolierung von verrotteten Genres und vergessenen Praxen der Kinogeschichte ist mit dem neuen Film bei den Breitwandepen vom Beginn der Fernsehära angekommen. Wo die 70-Millimeter-Kopie noch gezeigt werden kann, weil ein entsprechender Projektor zur Verfügung steht (in den USA und Kanada immerhin in 100 Kinos), gehören Ouvertüre (Musik: Ennio Morricone) und „Intermission“ zur Vorführung wie bei David Leans Klassiker Lawrence von Arabien.
Summe aller Teile
Innerhalb von Tarantinos Werk markiert The Hateful Eight eine Zwischenbilanz, worauf schon der Titel deutet. Es handelt sich um den achten Film seit Reservoir Dogs von 1992, und die Besetzung stellt in einer Mischung aus Klassentreffen und Familienfeier Verbindungen zum Werk her: Michael Madsen (Reservoir Dogs, Kill Bill), Jackson (Pulp Fiction, Jackie Brown, Django Unchained) und Kurt Russell (Death Proof) wären nur drei der vielen Namen, die nicht zum ersten Man in den Credits eines Tarantino-Films auftauchen. Inglourious Basterds wird repräsentiert durch Zoe Bell, die dort Stuntfrau war und hier als Six-Horse Judy auftritt – sowie durch metafilmische Links wie die Behauptung Tim Roths (Reservoir Dogs, Pulp Fiction), sein Oswaldo Mobray sei ein Vorfahre von Michael Fassbenders Archie Hicox aus dem Film von 2009.
Erzählerisch bewegt sich The Hateful Eight weg von den emanzipatorischen Ausflügen in die (Film-)Geschichte, die Death Proof, Inglourious Basterds und Django Unchained unternahmen. Zwar illustriert Jacksons Marquis Warren durch den als running fetish immer wieder herausgeholten „Lincoln-Brief“ auf schön ambivalente Weise die Anpassung an die Macht der Weißen – für die Rachefantasie, die Django war, interessiert sich der Film allerdings nicht.
Bonbon auf dem Boden
Vielmehr ist The Hateful Eight wie zuletzt Danny Boyles Biopic Steve Jobs (Freitag 46/2015) in der Tiefe seines szenischen Entwurfs ein Theaterstück – eine Kriminalkonversationskomödie, die in der Manier von Agatha Christies Die Mausefalle zwischen Schein und Sein in einer eingeschlossenen Gesellschaft zu unterscheiden versucht.
Dafür dekliniert Tarantinos genüsslich-gemächliches Drehbuch den Begriff der Ordnung durch: von konkretem Aufräumen bis zur gesellschaftlichen Verfasstheit. Das etwas nicht stimmt mit den Männern in Minnie’s Kurzwarenhandlung, die im Blizzard einer bunten Gruppe Schutz bietet, ahnt Kopfgeldjäger Warren beim Blick auf ein Bonbon, das auf dem Dielenboden rollt (statt im Glas auf dem Regal zu sein). Was nicht stimmt, ist die Frage, die als latente Spannung im gesetz- und ausweislosen Western jede Selbsterklärung von einander unbekannten Menschen begleitet.
Eine späte Rückblende zwingt den Film schließlich sogar zum Aufräumen, was wiederum eine treffende Metapher für Tarantinos Verhältnis zum Kino ist: Bei aller Liebe für Dreck, Schund und gore (den hier vor allem Jennifer Jason Leighs Delinquentin abbekommt), muss die Moral am Ende wiederhergestellt sein.
Info
The Hateful Eight Quentin Tarantino USA 2015, 167 (187) Minuten
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