Am 5. März 2011 produzierten einstige Angehörige der Nationalen Volksarmee und anderer DDR-Sicherheitsorgane eine Meldung. 100 Leute hatten sich in den Uniformen der 1990 aufgelösten DDR-Streitkräfte zu einer Feier in der dafür angemieteten Cafeteria des Berliner Tierparks versammelt, vorneweg der vor einem Monat verstorbene Ex-Verteidigungsminister und -Armeegeneral Heinz Keßler. Anlass war der 55. Jahrestag der NVA-Gründung.
Das Schauspiel erregte kurz Aufmerksamkeit in Berliner Zeitungen, der Tagesspiegel schrieb etwa vom „Aufmarsch einer Geistertruppe“ – und dann herrschte wieder Ruhe. Für die dänische Filmemacherin Signe Astrup war die Meldung dagegen der Beginn eines langjährigen Projekts – in dem Dokumentarfilm Die vergessene Armee spürt sie den Funktionseliten der DDR nach, einer Gruppe von Menschen, die für die deutsche Gegenwart keine Rolle spielen, die unsichtbar sind, wenn sie nicht gerade NVA-Geburtstag spielen, die allenfalls Erwähnung finden, wenn DDR-Opferverbände zu einem Jahrestag reden dürfen.
Die vergessene Armee ist leider kein guter Film. Astrup schneidet hin und her zwischen den skurrilen Parade-Übungen und kurzen Statements, es gibt unzählige O-Ton-Geber, die man Protagonisten nicht nennen kann. Die Bilder sind wurschtig. Und es ließe sich durchaus darüber diskutieren, ob ein Dokumentarfilm Figuren wie das Ehepaar Fischer (er vormals bei der Marine, sie Ärztin), mit dem Die vergessene Armee beginnt, nicht schützen müsste in deren Interesse: Alte Leute, die sichtbar angefasst und im Stehen ihren Trotz in die Kamera hineinreden („Es geht ums Gedenken an die DDR“) gibt es unzählige. So qualifiziert sich niemand als Charakter für einen Dokumentarfilm.
In Astrups Film sind die Schwierigkeiten seiner Entstehung sichtbar. Die in zahlreichen Verbänden organisierten einstigen Funktionsträger sind Menschen, die Scheu haben vor der (medialen) Öffentlichkeit – weil sie nur Demütigung erwarten, mit Vorführung und Schuldzuweisung rechnen; vielleicht auch, weil sie diffus Angst haben davor, dass das Gespräch mit dem Draußen ihre Selbstverkapselung aufbrechen könnte. Womöglich ist auch der Kontrollverlust, plötzlich Objekt von Berichterstattung und nicht mehr Subjekt von Befehlsausgabe zu sein, schwer zu ertragen für Leute, die Kontrolle gewohnt waren.
Astrup, die Außenseiterin aus Dänemark, ist gescheitert beim Versuch, den von ihr Porträtierten näherzukommen. Es gibt immerhin Momente, in denen sich andeutet, was am Stoff interessant ist, wenn die Uniformität der Ex-Armisten und -Stasi-Leute andifferenziert, der Konflikt zwischen den „Radikalen“ und den „Legalisten“ innerhalb der Erinnerungsverbände angesprochen wird. Wenn ein Ex-Grenzer nach dem „Danke“ der Regisseurin nicht aufhören will zu reden und es plötzlich um Schüsse an der Mauer geht, die offenbar nicht so leicht zu verarbeiten sind, wie es das sonst produzierte hermetische DDR-Bild tut.
Opfer und Täter brauchen sich
Wenn Bernd L., der aus Phantomschmerz wie eine Christian-Ulmen-Figur Streife läuft am Alexanderplatz und die richtigen Polizisten von heute auf „Unfallquellen“ hinweist, durch den Film in seiner Stasi-Akte liest und ein paar Sätze lang eine krasse Biografie auftaucht: der unbekannte leibliche Vater, die misshandelnde Mutter, das Heim, die Arbeit, die er dem Leben mit der Frau vorzieht, die dann doch schockierende Entdeckung, dass er, L., der 24-Stunden-Schichten für seinen Staat geschoben hat, von diesem selbst überwacht wurde durch einen Spitzel, dem er viel anvertraute. Wenn eine Gruppe von Ex-Armisten Christian Petzolds Film Barbara (Freitag 10/2012) guckt, in dem eine Inhaftierte aus dem Jugendwerkhof Torgau flieht.
„Das grenzt schon an Hetze“, sagt einer. „Mein Schwiegervater war der Leiter“, ein anderer, und danach müsste das Gespräch losgehen, das sich für die körperlich spürbaren Widerstände interessiert, die der Film bei diesen Zuschauern auslöst, für die Tiefe der Verletzung, die dort aufbricht.
Natürlich gibt es wichtigere Probleme, als sich um die Funktionseliten der DDR zu kümmern. Und damit sind nicht die Opfer des DDR-Regimes gemeint, für die sich auch keiner interessiert. Jochen Hicks Film über Mario Röllig (Der Ost-Komplex, Freitag 45/2016) hat das anschaulich gemacht, wenn sich homosexuellenfeindliche CDU-Kreisverbände den schwulen Zeitzeugen einladen, um sich für einen Jahrestagstermin besser zu fühlen als die DDR.
Zugleich konnte man bei Hick schon erkennen, wie sehr sich Opfer und Täter von einst brauchen, weil keiner von beiden seine DDR und die damit verbundenen Gefühle loslassen kann, weil die jeweils andere Seite die einzige ist, die noch weiß, wovon man überhaupt spricht.
Astrups Film deutet also gerade in seiner ästhetischen Hilflosigkeit auf einen blinden Fleck im deutschen Bezug auf die DDR-Geschichte. Es gibt hierzulande keine Idee davon, wie in einer „christlich-abendländischen Kultur“ (Thomas de Maizière) Versöhnung oder wenigstens Vermittlung versucht werden könnte. So regieren die Reflexe wie zuletzt in der Debatte um Andrej Holm als Staatssekretär in Berlin. Dabei ist es eine interessante Frage, ob es für das gesellschaftliche Miteinander nicht hilfreich wäre, einen anderen Umgang mit der Schuld von damals zu finden.
Wie nah alles beieinander liegt, zeigen die Auftritte der Ex-NVA-Soldaten im Film bei einer Kranzniederlegung in Uniform am Sowjetischen Ehrenmal: Die Zeremonie wird von den umstehenden Touristen eifrig gefilmt, weil sie sich kaum unterscheidet von den Schauspielern, die am Checkpoint Charlie für Geld auf Fotos posieren. Die um ihren Stolz ringenden DDR-Eliten sind die Kasperles im Besuchsprogramm.
Info
Die vergessene Armee Signe Astrup Deutschland 2016, 88 Min.
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